Israels Regierung verliert ihre Mehrheit im Parlament
Eine Abgeordnete verlässt Israels Acht-Parteien-Koalition wegen eines Streits über religiöse Vorschriften.

Zehn Monate ist die israelische Regierung alt – und hat somit immerhin schon doppelt so lange überlebt, wie viele Beobachter:innen vorausgesagt hatten. Wenn das Kabinett unter dem rechten Premierminister Naftali Bennett allerdings bisher am seidenen Faden hing, bekam dieser am Mittwoch einen Einriss. Idit Silman, eine Abgeordnete von Bennetts Jamina-Partei und Vorsitzende der Koalition im Parlament, erklärte ihren Abschied aus dem Bündnis. Da die Regierung nur über eine Stimme Mehrheit im Parlament verfügte, hat der Rückzug der rechten Parlamentarierin ernste Folgen: Die Regierung hat nun keine Mehrheit mehr, jeder Beschluss wird zum Tauziehen mit den Abgeordneten der Opposition.
Bemerkenswert ist, dass es nicht die Palästinenserfrage und nicht die Terroranschläge der vergangenen Woche waren, an denen die Acht-Parteien-Koalition zerbrechen könnte. Ausgerechnet an der Frage der jüdischen Speisegesetze scheiden sich die Geister.
In einer Woche beginnen die Pessach-Feiertage, in denen besonders strenge Regeln für die koschere Küche gelten. Vor Pessach entledigen sich alle jüdischen Haushalte ihrer Vorräte an Brot, Kuchen, Bier und an allem anderen, was Hefe oder Sauerteig enthält. Streng genommen gilt das auch für Krankenhäuser. Da aber ein Viertel der Menschen in Israel nicht jüdischen Glaubens ist, hat das Höchstgericht vor zwei Jahren entschieden, dass man den Kranken in den Kliniken ihr Brot nicht verbieten darf.
Entscheidung zum Austritt aus Israels Acht-Parteien-Koalition reifte schon länger
Dass am Eingang Sicherheitsleute stehen, die den Angehörigen der christlichen und muslimischen Patient:innen den Kuchen aus der Tasche ziehen, sei grundrechtswidrig, befand eine Mehrheit der Höchstrichter. Das ist zwei Jahre her. In der Pandemie hatte das Land andere Sorgen, aber jetzt, kurz vor Pessach, wurde die Frage wieder akut. Gesundheitsminister Nitzan Horowitz teilte den Spitälern mit, sie mögen das Mitbringen von Brot und Kuchen nicht unterbinden.
Idit Silman nahm das zum Anlass für ihren Rücktritt. „Ich werde nicht Beihilfe leisten, wenn der jüdische Charakter des Staates Israel beschädigt wird“, erklärte sie in einem Schreiben, das selbst für Silmans Parteivorsitzenden Bennett überraschend gekommen sei, wie es heißt. Aus dem Brief geht aber hervor, dass die Frage des Hefegebäcks eher ein willkommener Anlass war, um eine Entscheidung zu verkünden, die schon länger gereift war. Sie werde versuchen, weitere Gleichgesinnte davon zu überzeugen, eine neue Regierung zu bilden, erklärte Silman: „Eine andere Mehrheit ist möglich in diesem Parlament.“
Israels Acht-Parteien-Koalition wackelt
Oppositionsführer Benjamin Netanjahu lobte Silmans Schritt als ein „Nachhausekommen“. Er forderte weitere Koalitionspolitiker:innen auf, sich seinem Lager anzuschließen. Dem Vernehmen nach hatte Netanjahu Silman zuvor das Amt der Gesundheitsministerin zugesagt, sollte Netanjahu die Macht übernehmen.
Ob es soweit kommt, ist aber fraglich. Israels Parlament steht vor derselben Pattsituation wie nach den vier Wahlgängen, die das Land seit 2019 erlebt hat.
Die Koalition ist zu schwach, um zu überleben, aber die Opposition nicht stark genug, um die Macht zu übernehmen. Denn an der Tatsache, dass fast niemand mit Oppositionschef Benjamin Netanjahu regieren will, hat sich in den vergangenen Jahren nichts geändert. Es müsste also erst zu einem Machtwechsel in Netanjahus Likud-Partei kommen, bevor ein Regierungswechsel möglich ist – und das ist eher unwahrscheinlich.
Am wahrscheinlichsten ist, dass sich die Koalition jetzt so lange durchwurstelt, bis die Opposition es auf eine Mehrheit für einen Neuwahlbeschluss bringt. In diesem Fall wäre Bennett nicht nur die Mehrheit los, sondern auch sein Amt: Laut Koalitionsvertrag geht im Fall vorgezogener Neuwahlen der Sitz des Ministerpräsidenten sofort an Außenminister Jair Lapid.