Zwischen „Pogrom“ und „Terrorakt“: Israelische Gewalt mit System
Die israelische Siedlerbewegung radikalisiert sich immer mehr, wie das Desaster von Huwara zeigt. Sie weiß aber die Regierung Netanjahu auf ihrer Seite. Eine Analyse.
Brennende Häuser und Autos, fliehende Menschen, ein aggressiver Mob, der mit Knüppeln und Schusswaffen durch die Gassen läuft und Schrecken verbreitet: Das, was jüdische Siedler-Radikale am 26. Februar in der palästinensischen Stadt Huwara nahe Nablus und in umliegenden Dörfern anrichteten, wurde in Israel als „Pogrom“ und „Terrorakt“ bezeichnet. Viele Israelis zeigten sich geschockt über die nackte Gewalt, die von ihren Landsleuten an palästinensischen Kommunen begangen wurde.
Wer die Vorgänge im Westjordanland seit längerem beobachtet, muss sich eingestehen, dass gewaltsame Übergriffe von Siedlergruppen auf Palästinenser:innen keine Ausnahme sind. „Wir sehen das fast jede Woche“, sagt Ziv Stahl, die Vorsitzende der israelischen Menschenrechtsorganisation „Yesh Din“.
Die Hetzjagd von Huwara war in ihrer Größenordnung zwar einzigartig. Und anders als sonst waren es nicht Dutzende, sondern mehrere Hunderte entfesselte Siedler, durch deren Gewalt ein palästinensischer Sanitäter ums Leben kam und mehrere Hundert andere Menschen verletzt wurden. Aber dass Mobs in palästinensischen Dörfern wüten, kommt häufig vor. Dass israelisches Militär dabei untätig zusieht, ebenfalls. Die radikalen Siedlergruppen verfolgen mit der Gewalt ein klares politisches Ziel: Palästinenser:innen sollen sich in ihrem Zuhause nicht mehr sicher fühlen. Sie sollen Angst haben, ihre Felder und Olivenplantagen zu betreten, damit sich dort in der Folge jüdische Siedlungen ausbreiten können.

Vertreibung der Palästinenser:innen – mit israelischem Steuergeld
Es ist eine Strategie, die wirkt: Rund um Yitzhar, einer in den 80er Jahren gegründete Siedlung, haben Siedler mittlerweile mindestens acht illegale Outposts errichtet – improvisierte Mini-Siedlungen auf gestohlenem Land. Israels Höchstgericht hat diese Outposts wiederholt für unrechtmäßig erklärt. Nun hat Israel aber eine ultrarechte Regierung, und die erfüllt den gewaltbereiten Siedler:innen einen lang gehegten Wunsch: Zehn illegale Outposts in der Westbank werden legalisiert. Die palästinensischen Grundeigentümer:innen müssen zusehen, wie auf ihrem Land neue Häuser, Straßen und Grenzzäune errichtet werden – mit israelischem Steuergeld.
Zusammengefasst: Die gewaltbereiten Siedler holen sich mit Fäusten und Waffen zusätzlich Land, die Armee sieht zu, und am Ende erklärt die Regierung das alles für legal. Um auch die letzten Hürden zu beseitigen, will die neue Regierung nun auch das Höchstgericht entmachten.
Wenn von Siedlergewalt die Rede ist, führt das leicht zu Missverständnissen. Der Großteil der jüdischen Siedelnden im Westjordanland hat wenig Sympathie für Ausschreitungen. Es gibt jedoch bestimmte Siedlungen, wie eben Yitzhar nahe Nablus, die für ihre Verstrickung in antipalästinensischen Terror bekannt sind. Bereits im Jahr 2012 stellte der damalige israelische Inlandsgeheimdienstchef Yoram Cohen fest, dass „mehrere Dutzend vorwiegend in Yitzhar angesiedelte Aktivisten entschlossen sind, den Weg des Terrors zu gehen“.
Gewalttätige Übergriffe haben so gut wie nie juristische Folgen
Obwohl das Problem seit langem bekannt ist, haben die Gewaltübergriffe bestenfalls selten juristische Folgen. Nur drei Prozent der angezeigten Taten münden in Anklagen. Mehr als zwei Drittel der Fälle werden aber erst gar nicht angezeigt, weil die Palästinenser:innen wenig Hoffnung haben, dass sie Recht erhalten. Laut „Yesh Din“ ist die Chance auf Strafverfolgung höher, wenn nicht nur Palästinenser:innen attackiert werden, sondern auch Soldat:innen – auch das kommt immer wieder vor.
In den Abendstunden des 26. Februar, als in Huwara Häuser und Autos brannten, wurde die Armee nicht angegriffen. Bis heute ist auch keine einzige Anklageerhebung irgendwo eingegangen. Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass das noch geschieht. Ziv Stahl von „Yesh Din“ ist aber skeptisch: „Gegen die sechs Verdächtigen wurden Verwaltungsstrafen verhängt. Das ist ein Indiz, dass eher keine Anklagen mehr nachfolgen werden.“
Die gewaltbereiten Siedler sind nicht nur vor Strafverfolgung weitgehend immun. Sie fühlen sich auch sicher genug, um durch palästinensische Dörfer zu laufen, obwohl sie dort eigentlich mit Gegengewalt rechnen müssten. Wer Videodokumentationen der Siedlerangriffe verfolgt, weiß warum: Die Radikalen wissen sich durch das israelische Militär geschützt. Die jungen Wehrdienstleistenden wurden dafür trainiert, israelische Zivilpersonen vor palästinensischer Gewalt zu schützen – aber nicht umgekehrt. Das führt dann dazu, dass Tränengas und Blendgranaten erst dann eingesetzt werden, wenn Palästinensergruppen beginnen, sich gegen die Attacken zu verteidigen.
Rechtsextreme machen erneut Stimmung gegen Palästinenser:innen
So war das auch vergangenen Freitagabend. Im kleinen Dorf Burin nahe Nablus machten sich Dutzende radikaler Siedler auf, um auf palästinensischem Grund und Boden Olivenbaumsetzlinge auszureißen und in Häusern Fensterscheiben einzuschlagen. Das Militär sah wieder zu. Als die palästinensischen Bauern begannen, ebenfalls mit Steinen zu werfen, schritt die Armee ein.
In den rechtsextremen Parteien „Otzma Jehudit“ und „Religiöse Zionisten“ haben die radikalen Siedler:innen nun einen direkten Draht zur Macht. Und nicht nur das: Itamar Ben-Gvir, der Chef von „Otzma Jehudit“ und Israels Minister für Nationale Sicherheit, hat nun den Oberbefehl über die im Westjordanland tätigen Polizeikräfte. Bezalel Smotritsch, Führer der rechts-religiösen Partei „HaTzionut HaDatit“ und Finanzminister, ist jetzt Gouverneur in den besetzten Gebieten. Beide haben sich nach Huwara nicht von der Siedlergewalt distanziert, im Gegenteil: Smotritsch befürwortet es sogar, Huwara vollständig „auszulöschen“.
Der Mob hört die Botschaft und fühlt sich gestärkt. Man muss damit rechnen, dass Huwara nur ein Anfangspunkt für eine neue Stufe der Gewalt war. (Marie Sterkl)