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Israel: Hunderttausende vor der Knesset

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Von: Maria Sterkl

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Kämpfen für den Rechtsstaat: Demonstrierende werden von Sicherheitskräften vor dem Parlamentsgebäude aufgehalten.
Kämpfen für den Rechtsstaat: Demonstrierende werden von Sicherheitskräften vor dem Parlamentsgebäude aufgehalten. © afp

Ein Generalstreik gegen die Entmachtung der Justiz legt Israel am Montag lahm

Für den 16-jährigen Yigal aus Jerusalem und seine Freunde fand der Unterricht am Montag im Freien und bei ohrenbetäubendem Lärm statt. „Mein Staatsbürgerschafts-Lehrer hat gesagt: Wer zur Demo geht, kriegt eine Eins“, erzählt Yigal und lacht. Im Ernst fügt er hinzu: „Ich wäre sowieso gekommen. Wir lassen uns die Demokratie nicht kaputt machen.“

Mindestens 100 000 Menschen sind laut Angaben der Initiator:innen am Montag zum Parlamentsgebäude in Jerusalem gekommen, um gegen die Entmachtung der Justiz zu protestieren, manche sprechen sogar von bis zu 200 000 Teilnehmenden. Jedenfalls sind es so viele, dass auch der angrenzende Oberste Gerichtshof in die Demonstration eingeschlossen wird – passend zum Anlass. Kaum jemals sah man so viele Israelis ihre Sympathien für die Spitzen der Justiz ausdrücken. Mit roten Herzen und Stickern wie „Ich liebe das Höchstgericht“ oder Bildern der Generalstaatsanwältin im Superstarkostüm bringen die Demonstrant:innen auf den Punkt, was sie von einer Entmachtung der Justiz halten. „Levin, Levin, das hier ist nicht Polen!“, reimen sie auf Hebräisch. Der Adressat ist Jariv Levin, Justizminister und oberster Kommandant der geplanten Rechtsstaatssprengung.

„Es ist ein Schicksalstag“, sagt der 69-jährige Yoav, während er eine Israelfahne schwenkt. Während draußen protestiert wird, sitzen im Inneren des Parlamentsgebäudes die Abgeordneten der Koalition. Soeben haben sie den ersten Teil der umstrittenen Justizreform im Verfassungsausschuss beschlossen.

Umfrage: 50 Prozent der Israelis sind gegen die Justizreform

In einer Rede vor den Demonstrant:innen feuert Oppositionsführer Jair Lapid die Menge an. Über die Koalition sagt er: „Sie hören uns, sie haben Angst vor uns!“ Die Bevölkerung weigere sich, das Spiel der Regierung mitzuspielen, sagt Lapid. „Wir sind nicht nur dazu da, Steuern zu zahlen und unsere Kinder in die Armee zu schicken.“ Die Menge applaudiert.

In Israel ist an diesem Montag Generalstreik. Tausende Betriebe haben sich dem Streik angeschlossen, allein 300 von ihnen gehören dem für Israel so wichtigen Hightechsektor an. Die wichtigsten Universitäten Israels rangen sich in den vergangenen Tagen zu einer klaren Haltung durch. „Der jüdisch-demokratische Staat ist in Gefahr“, erklärten Präsident und Rektor der renommierten Hebräischen Universität in Jerusalem in einer Mitteilung. „In einer solchen Gefahrenlage kann man nicht schweigen.“ Fakultät und Studierende seien aufgerufen, sich dem Protest anzuschließen, erklärten die Leitungen mehrerer Unis in Jerusalem, Tel Aviv, Haifa und Beersheba. Für Prüfungen, die an diesem Tag abgehalten wurden, werde es Ersatztermine geben, sagte der Rektor der Uni Haifa.

Spät, aber schließlich doch wandte sich am Sonntagabend schließlich auch der israelische Staatspräsident Itzchak Herzog in einer Rede an die Nation mit einem klaren Aufruf an die Regierung. Die derzeitige Lage sei „ein Pulverfass“, warnte Präsident Herzog. Er rief die Koalition auf, innezuhalten und nicht wie geplant im Eiltempo mit der Entmachtung der Justiz fortzufahren. Der soziale Zusammenhalt Israels sei in Gefahr, wenn die Regierung einfach die zweite Hälfte der Bevölkerung ignoriere, sagte Herzog.

Laut einer aktuellen Umfrage im Auftrag des öffentlichen Senders Kan 11 sprechen sich 50 Prozent der Israelis gegen die Justizreform aus. Nur 27 Prozent erklären sich mit den weitgehenden Einschnitten im Rechtsstaat einverstanden. Der Rest ist unentschlossen.

Institut für Nationale Sicherheitsstudien zur Justizreform: „Appell des Präsidenten ist die letzte Chance“

Justizminister Jariv Levin zögerte nicht lange, um dem Präsidenten eine Abfuhr zu erteilen: Er denke nicht daran, die Gesetzgebung zu stoppen, sagte er am Sonntagabend. Wie geplant landete der erste Teil der Reform am Montag im Parlamentsausschuss und wurde dort mit den Stimmen der Koalition beschlossen: Höchstrichter sollen künftig politisch nominiert werden, Entscheidungen des Obersten Gerichtshof von der Koalition abgeschmettert werden.

Die Ausschusssitzung artete aus: Abgeordnete riefen „Schande, Schande!“ im Chor, einzelne Parlamentarier:innen sprangen auf die Bänke. Zwanzig Personen wurden des Saals verwiesen.

Welchen Effekt die Massendemonstrationen und die Rede des Präsidenten haben werden, ist unklar. Herzog hatte einen Kompromissvorschlag mit fünf Punkten präsentiert und forderte Koalition und Opposition auf, auf dieser Basis zu verhandeln.

Kann nur mit Mühe zurückgehalten werden: Vladimir Bilyak (l.) von der liberalen Partei Jesch Atid.
Kann nur mit Mühe zurückgehalten werden: Vladimir Bilyak (l.) von der liberalen Partei Jesch Atid. © afp

Immer lauter werden nun die Stimmen, die in der von Herzog geöffneten Tür den letzten Ausweg sehen. In ungewöhnlich klarer Weise deklarierte US-Botschafter Tom Nides seine Unterstützung für den Appell. Die Vorstandsvorsitzenden der fünf größten israelischen Banken stellten sich in einem gemeinsamen Statement ebenfalls hinter den Herzog-Plan. Nur mit einem „breiten Konsens“ im Zuge der Justizreform sei ökonomischer Wohlstand auch weiterhin gesichert, sagen sie.

Die Leitung des israelischen Instituts für Nationale Sicherheitsstudien gab eine „spezielle Erklärung“ ab: „Der Appell des Präsidenten ist vielleicht die letzte Chance, um zu verhindern, dass der Spalt in der israelischen Gesellschaft unvorstellbare Ausmaße annimmt und dazu führt, dass die nationale Sicherheit des Staates gefährdet wird.“

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