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Mit Giftgas gegen die Jugend: Regime im Iran steht unter Druck

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Iranische Frauenrechtsgruppen protestieren in New York gegen die Massenvergiftungen. ed jones/afp
Iranische Frauenrechtsgruppen protestieren in New York gegen die Massenvergiftungen. ed jones/afp © Ed Jones/afp

Die Giftanschläge auf Mädchenschulen im Iran halten an. Wer genau hinter den Angriffen steckt, ist aber noch völlig unklar. Von Teseo La Marca.

Teheran - An iranischen Mädchenschulen herrscht Ausnahmezustand. Videos, die seit Ende Februar aus dem Land dringen, zeigen chaotische Szenen: Schülerinnen ringen, auf dem Boden der Schulhöfe liegend, nach Luft, andere rufen panisch nach Hilfe und besorgte Eltern, denen der Zutritt zu den Schulen verwehrt wird, klettern über Mauern und Absperrungen, um nach ihren Töchtern zu sehen.

Neben Atemnot klagen die meisten Opfer über Übelkeit und Schwindel. Vor dem Auftreten der Symptome soll laut Zeugenberichten ein eigenartiger Geruch in der Luft gelegen haben. Inzwischen sollen Tausende Schülerinnen in verschiedenen Städten im ganzen Land betroffen sein, was auf systematische Giftanschläge gegen die Mädchenschulen hindeutet.

Regierung im Iran steht unter Druck

Weil die Vergiftungen für neue Proteste sorgen, steht die Regierung unter Druck. Sie spricht über gezielte Giftgasanschläge, vermutlich mit dem Ziel, Mädchen und Frauen von den Schulen und damit von der Bildung abzuhalten. Wer genau hinter den Angriffen steckt und welche Giftstoffe zum Einsatz kommen, ist aber noch völlig unklar.

Das bietet Anlass für Spekulationen. Seit dem vergangenen Jahr setzt das iranische Regime vermehrt auf Kameras mit Gesichtserkennung, um Frauen, die den Zwangsschleier verweigern, zu identifizieren und zu bestrafen. „Im Iran wird sogar kontrolliert, wer Farbe kauft, um regimekritische Slogans auf Wände zu malen“, schreibt die deutsch-iranische Journalistin Gilda Sahebi auf Twitter. Wie ist es also möglich, dass Unbekannte jetzt unerkannt an Hunderten Schulen Giftgasanschläge durchführen? Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal, dass religiöse Fanatiker im Iran straflos frauenfeindliche Angriffe durchführen. 2014 gab es eine Serie von Säureangriffen gegen Frauen, die mit den strengen Kleidervorschriften, die seit der Islamischen Revolution 1979 gelten, lockerer umgingen. Auch damals wurden die Hintermänner nie gefunden, der Verdacht steht im Raum, dass die Täter politische Rückendeckung genossen.

Unruhen im Iran: „Es zeigen sich allmählich deutliche Risse im Staat“ – Gilda Sahebi im FR-Interview

Spekulationen über Giftanschläge an Mädchenschulen im Iran

Doch die Spekulationen verlaufen auch in umgekehrte Richtung. Angesichts der vagen Symptomatik und fehlender weiterer Indizien vermuten manche Beobachter:innen eine Massenhysterie. Ähnliche Fälle seien im Kosovo 1990 und im besetzten Palästina 1986 – ebenfalls in einer Atmosphäre der Unterdrückung – aufgetreten, sagte der Psychiater Simon Wessely vom King’s College London in einem Bericht der BBC.

„Tatsächlich kommt als Ursache für die Vergiftungen alles Mögliche infrage“, meint auch der deutsche Chemiker und Toxikologe Ralf Trapp. Selbst wenn die iranische Regierung, wie von ihr angekündigt, die Fälle untersucht und Blut- und Umweltproben sammelt, sei die Suche nach den Ursachen dennoch schwierig. Psychologische Faktoren und reale Vergiftungen würden sich auf keinen Fall ausschließen, gibt Trapp zu bedenken und beruft sich unter anderem auf den Giftgasanschlag mit dem Nervengift Sarin in der Tokioter U-Bahn 1995. Auch damals meldeten sich in den Krankenhäusern neben Opfern mit realen Vergiftungen auch zahlreiche Menschen, die nicht mit dem Giftgas in Berührung gekommen waren, mit Symptomen einer Vergiftung.

Ein iranischer Arzt, der in einer Notaufnahme in der südiranischen Provinz Chusestan arbeitet und der in den vergangenen Wochen auch vergiftete Schülerinnen behandelt hat, zeigt sich gegenüber der Hypothese skeptisch. Bei den Schulmädchen, die bei ihm eingeliefert wurden, sei an den Kleidern ein deutlicher Geruch nach verfaulten Eiern und Essig wahrnehmbar gewesen. „Mindestens ein Teil der gemeldeten Symptome muss auf reale Vergiftungen zurückgehen“, glaubt deshalb der Arzt, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben möchte.

Dass ausgerechnet der Oberste Führer Ali Khamenei nun die Anschläge als „unverzeihliches Verbrechen“ bezeichnet und harte Strafen gegen die Verantwortlichen angekündigt hat, dürften viele Iranerinnen und Iraner als Krokodilstränen werten. Sie machen Khamenei zumindest indirekt für die Vergiftungen verantwortlich.

Regime im Iran versucht, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen

Tatsächlich war es Khamenei, der seit Jahren immer wieder betonte, die Anhänger der Islamischen Republik sollten das ideologische Fundament des Staates mit allen verfügbaren Mitteln und nach eigenem Ermessen verteidigen – ein Kurs, der im Iran als „Feuer frei!“-Politik bekannt ist und als praktische Lizenz zum Töten für Regimeanhänger gilt.

Angesichts dessen ist wenig überraschend, wen das Regime in Zusammenhang mit den Giftangriffen verhaften ließ - Stand Samstagabend sollen es mehr als 100 Menschen gewesen sein. Es sind keine religiösen Extremisten, sondern, wie die staatliche Nachrichtenagentur ISNA meldet, „Personen, (…) die während der jüngsten Ausschreitungen aktiv waren und mit ausländischen Medien kooperieren“. Das ist das Wording, das die iranische Führung für regierungskritische Demonstrant:innen benutzt.

Es scheint, als versuche das Regime, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: den Widerstand der Jugendlichen durch Giftgasattacken zu brechen und zugleich seine Gegner:innen dafür verantwortlich zu machen. (Teseo La Marca)

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