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Interview mit Avraham Burg: „Habt ihr Angst vor eurem eigenen Schatten?“

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Von: Maria Sterkl

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Derzeit wenden sich Menschen in Israel auf Großdemonstrationen gegen die Justizreform.
Derzeit wenden sich Menschen in Israel auf Großdemonstrationen gegen die Justizreform. © AFP

Der israelische Intellektuelle Avraham Burg über Netanjahus Treffen mit Kanzler Scholz und deutsche Hemmungen, antidemokratische Entwicklungen zu benennen.

Am Donnerstag wird Bundeskanzler Olaf Scholz den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu empfangen. Was erwarten Sie sich vom Kanzler?

Sehen wir uns die zwei Motivationen Netanjahus für diese Reise an: Erstens will er sich mit seiner Frau auf Kosten der Allgemeinheit ein nettes Wochenende in Berlin machen, wie er es gewohnt ist. Zweitens benutzt er Scholz und den Berlin-Besuch, um israelisches Business-as-usual auszustrahlen, obwohl das Business in Israel ganz und gar nicht in geordneten Bahnen verläuft. Was bedeutet das nun für Scholz? Zuallererst ist es eine Plage. Ich denke, würde man Scholz fragen, ob er lieber Netanjahu treffen oder ins Kino gehen würde, würde er sagen: Gebt mir Tickets für fünf Filme.

Das Treffen findet aber statt. Welche Rolle sollte Scholz einnehmen?

Ist Scholz eine bloße Handpuppe oder ist er ein wahrer Freund Israels? Wenn er eine Handpuppe ist, dann spult er nur die üblichen Klischees ab. Wenn ihm an Israel wirklich etwas liegt, dann sagt er Folgendes zu Netanjahu: Wir stehen hinter Israels Bedürfnis, eine starke Demokratie im Nahen Osten zu sein. Dazu gehört aber, dass Israel nicht in Richtung eines Orban-Ungarns abgleitet, dass es die Todesstrafe nicht wieder anwendet, und dass es den Palästinensern nicht auf alle Ewigkeit ihre demokratischen Bürgerrechte verweigert.

Eine solche Moralpredigt des Kanzlers würde Linke in Israel glücklich machen – aber hätte sie denn den gewünschten politischen Effekt?

Das ist schwer zu sagen. Lange Zeit waren den israelischen Wählern gewisse Themen, mit denen in Europa Wahlen geschlagen wurden, völlig egal – die Wirtschaft zum Beispiel. Heute werden plötzlich zwei Elemente hitzig debattiert: Israels Wirtschaft und Israels Image in der Welt. Wenn nun ein ausländischer Regierungschef zu Netanjahu sagt: Herr Premierminister, Ihre Wirtschaft ist im Abschwung, Ihre Strukturen sind dermaßen erodiert, dass wir Sie vor der Welt nicht mehr verteidigen können – dann ist das ein Argument, das bei den Israelis Gehör finden wird.

Avraham Burg (68) ist ein langjähriger linker israelischer Politiker und ehemaliger Parlamentspräsident. Er tritt für Friedensverhandlungen mit allen Palästinenserorganisationen ein und akzeptiert für Israel nur noch einen „kulturellen Zionismus“, ähnlich dem zivilgesellschaftlichen Nationalismus Frankreichs. Burgs Vater Yosef, gebürtig in Dresden, konnte 1939 aus Deutschland fliehen. 1949 wurde er in die Knesset gewählt und diente 40 Jahre lang in verschiedenen politischen Posten. Avraham Burg diente als Fallschirmjäger-Offizier.
Avraham Burg (68) ist ein langjähriger linker israelischer Politiker und ehemaliger Parlamentspräsident. Er tritt für Friedensverhandlungen mit allen Palästinenserorganisationen ein und akzeptiert für Israel nur noch einen „kulturellen Zionismus“, ähnlich dem zivilgesellschaftlichen Nationalismus Frankreichs. Burgs Vater Yosef, gebürtig in Dresden, konnte 1939 aus Deutschland fliehen. 1949 wurde er in die Knesset gewählt und diente 40 Jahre lang in verschiedenen politischen Posten. Avraham Burg diente als Fallschirmjäger-Offizier. © A.Krogmann

Ist Deutschland denn legitimiert, Israel zu erklären, wie Demokratie geht? Man hätte es ja schon bei Putin versuchen können.

Ich stimme zu, dass es viele Ungereimtheiten gibt. Ich glaube aber, wenn sich Europa vom russischen Öl und Gas gänzlich befreit hat, dann ist die Zeit reif, um sich folgende Fragen zu stellen: Wie geht die EU mit Russland um? Wie geht sie mit den illiberalen EU-Mitgliedern um? Und wie mit der Türkei? Was auch immer die Antworten auf diese Fragen sein werden – dieselben Kriterien müssen dann auch für Israel gelten.

Justizreform nimmt weitere Hürde

Das israelische Parlament hat ungeachtet fortgesetzter Proteste und Vermittlungsversuche mit der Annahme einer „Aufhebungsklausel“ die umstrittenen Justizreform weiter vorangetrieben. Die Abgeordneten billigten den Gesetzestext am Montag in erster Lesung mit 61 gegen 52 Stimmen. Das Gesetz tritt erst nach zweiter und dritter Lesung in Kraft.

Die „Aufhebungsklausel“ gehört zum Kern der Justizreform von Benjamin Netanjahu und seinem rechts-religiösen Kabinett. Es würde dem Parlament mit einfacher Mehrheit erlauben, Gesetze auch zu verabschieden, wenn sie gegen die Verfassung verstoßen. Der Oberste Gerichtshof könnte dann nichts dagegen tun.

Einen weiteren Gesetzentwurf hatte die Knesset zuvor in erster Lesung verabschiedet. Demnach werden die Möglichkeiten eingeschränkt, einen amtierenden Ministerpräsidenten für geschäftsunfähig zu erklären.

Das Gesetz zielt explizit darauf ab,Netanjahu zu schützen, gegen den derzeit ein Prozess wegen Korruption läuft.

Wie stehen Sie zu Sanktionen gegenüber Israel?

Lange Zeit war das Sanktionsmodell auf Israel nicht anwendbar, aus vielen Gründen. Ich habe aber das Gefühl, dass heute, wo die Macht in Israel in den Händen von Rassisten, Faschisten und religiösen Fundamentalisten liegt, die ganze Frage, ob sich Israel in der Liga der westlichen Demokratien befindet, neu gestellt werden muss. Aber sie soll nicht von mir gestellt werden. Das müsst ihr Europäer schon selber tun. Ich bin nur ein Israeli, der auf dem demokratischen Schlachtfeld kämpft, und ich erwarte nicht, dass die Welt diesen Job für mich macht. Die internationale Gemeinschaft hat aber die Aufgabe sich zu fragen, was ihr Wertesystem ist.

Sind die Werte, die Deutschlands Außenpolitik prägen, denn nicht dieselben, wenn es um Israel geht?

Deutschland steckt in den Fängen der Dämonen seiner Vergangenheit, und das ist auch ganz natürlich. Ich sehe in Deutschlands Politik zwei Ansätze, um mit der Nazivergangenheit umzugehen. Einer sagt: Seht her, wir haben eine Alternative für Deutschland! Und was ist die Alternative? Noch mehr vom Vergangenen! Und die andere Seite sagt: Brechen wir total mit dieser Vergangenheit und verbünden wir uns mit dem Opfer, also den Juden – und ganz egal, was das Opfer tut, wir rechtfertigen es. Beide Seiten liegen falsch.

Was wäre aus Ihrer Sicht der Mittelweg?

Die Deutschen müssen ehrlich zu sich selbst sein. Sie müssen sagen: Wir erkennen unsere Vergangenheit an und versuchen nicht, frühere Untaten zu rechtfertigen, indem wir neue Untaten unterstützen. Viele Deutsche können aber gar nicht über Juden sprechen. Es gibt Schuldgefühle, es ist kompliziert, es ist heikel – und ich sage: Okay, ihr wollt es nicht ansprechen? Dann lasst mich für euch sprechen! Es gibt auch Stimmen, die sagen, dass jeder, der Israel kritisiert, Antisemit ist. Und ich sage, das ist die eigentliche Antisemitismusleugnung. Was ist das Problem, wenn man Israel dafür kritisiert, dass es Millionen von Menschen ihre demokratischen Rechte verweigert? Habt ihr Angst vor eurem eigenen Schatten? Habt ihr euch selbst kastriert?

Wenn die jüdische Community in Deutschland befürchtet, dass laute Israel-Kritik der Bundesregierung in antisemitische Hetze gegen sie umschlagen könnte, sollte ein deutscher Kanzler das nicht berücksichtigen?

Ich weiß nicht, ob es so etwas gibt – jüdische Community. Es gibt den Zentralrat und ich halte ihn für einen verlängerten Arm der israelischen Regierung. Ich weiß nicht einmal, wie viele Juden und Jüdinnen er repräsentiert. Es gibt viele jüdische Menschen in Berlin, Hamburg, München und allerorten, die diese Linie nicht akzeptieren.

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