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Linken-Vorsitzende Wissler und Schirdewan: „Katastrophe für viele Menschen längst Realität“

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Von: Pitt von Bebenburg

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Protestierende in Leipzig, maskiert im Stil der kapitalismuskritischen Netflix-Reihe „Haus des Geldes“.
Protestierende in Leipzig, maskiert im Stil der kapitalismuskritischen Netflix-Reihe „Haus des Geldes“. © dpa

Wie will die Linke mit ihren Plänen gegen Armut in Deutschland durchdringen? Wie steht sie zum Krieg in der Ukraine? Die Vorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan im Gespräch.

Frau Wissler, Herr Schirdewan, Bundeskanzler Olaf Scholz hat in dieser Woche im Bundestag davor gewarnt, man solle „keine Spaltung im Land herbeireden“. Reden Sie mit Ihrer Ankündigung eines „heißen Herbsts“ eine Spaltung herbei?

Janine Wissler: Wir verursachen das Problem nicht, wir benennen es und fordern, dass man endlich etwas dagegen tut. Die soziale Spaltung im Land ist Fakt. Man muss sich dafür nur den Armutsbericht anschauen. Dann stellt man fest, dass 14 Millionen Menschen in Armut leben. Olaf Scholz hat im Wahlkampf Respekt versprochen, er sollte eine Politik machen, die diese soziale Spaltung überwindet – und nicht diejenigen verantwortlich machen, die auf diese Spaltung hinweisen.

Herr Schirdewan, Sie haben in einem Interview vor einer „sozialen Katastrophe“ gewarnt. Ist das keine gefährliche Rhetorik?

Martin Schirdewan: Für viele Menschen ist die Katastrophe längst Realität und das nicht erst seit diesem Sommer und diesem Herbst mit dem massiven Anstieg der Lebenshaltungskosten. Es gibt pro Jahr bereits 300.000 Menschen, denen der Strom oder das Gas abgestellt wird. Für viele Menschen gestalten sich die Lebensverhältnisse einfach unerträglich hart, weil es vorne und hinten nicht reicht. Und da kommt die Preisexplosion jetzt noch obendrauf. Da muss man ansetzen mit einer Politik der sozialen Gerechtigkeit.

Auch die Rechte mobilisiert gegen die steigenden Preise und spricht von einem „heißen Herbst“. Wie gehen Sie damit um, wenn deren Leute bei Ihren Veranstaltungen auftauchen?

Schirdewan: Wir haben in unserem Aufruf für die Veranstaltung in Leipzig in dieser Woche deutlich gemacht, dass bei uns der Platz für legitimen demokratischen und sozialen Protest ist, aber nicht für rechte Propaganda. Wir haben eine enge Zusammenarbeit mit den Behörden in der Vorbereitung gehabt und auch eigene Ordnerstrukturen, die darauf geachtet haben, dass unsere Veranstaltung nicht von Rechten unterwandert wurde. Außerdem haben wir ein breites demokratisches Bündnis mit Beschäftigten, Klimabewegung und antifaschistischen Gruppen gebildet. Solche Bündnisse schützen am besten davor, dass die Rechten am Protest andocken können.

Martin Schirdewan und Janine Wissler bilden gemeinsam die Doppelspitze der Linken.
Martin Schirdewan und Janine Wissler bilden gemeinsam die Doppelspitze der Linken. © Martin Schutt/dpa

Wie funktioniert das vor Ort, die Unterwanderung zu verhindern?

Schirdewan: Das ist eine Frage der konkreten Vorbereitung. Da habe ich vollstes Vertrauen zu unseren Verantwortlichen vor Ort. Ich glaube, dass die Erzählung fatal ist und schlicht nicht stimmt, dass bei diesen Protesten eine Querfront geschaffen werde. Das ist genau die Erzählung, die die Rechten vorantreiben. Das wird leider in der Öffentlichkeit aufgegriffen, um demokratische Proteste zu delegitimieren. Dazu muss ich klar sagen: Wir als antifaschistische Partei sind eindeutig in unseren Aufrufen. Das spiegelt sich auch in den Bündnisstrukturen wider.

Jetzt in Leipzig soll Sahra Wagenknecht als Rednerin erst angefragt und dann wieder ausgeladen worden sein. War das die Angst vor dieser „Querfront“?

Schirdewan: Ich habe sie weder ein- noch ausgeladen. Die Veranstaltung wurde über die Linke in Leipzig organisiert. Unser Leipziger Abgeordneter Sören Pellmann hat erklärt, dass es keine Einladung an sie gab und in diesem Sinne auch keine Ausladung.

Zur Person

Seit Februar 2021 steht Janine Wissler an der Spitze der Linkspartei und zog im Oktober 2021 in den Deutschen Bundestag ein. Vorher war sie 13 Jahre lang Abgeordnete im hessischen Landtag gewesen, davon zwölf Jahre als Fraktionsvorsitzende. Die 41-jährige Frankfurterin wurde im Juni 2022 als Parteichefin bestätigt. (pit)

Zwischen dem Wagenknecht-Lager und der Parteiführung gibt es unterschiedliche Auffassungen zur Energiepolitik und zur Rolle Russlands. Wer trägt die Verantwortung für die soziale Krise: Putin, der den Krieg angefangen hat? Oder die Bundesregierung, die darauf nicht richtig reagiert?

Wissler: Die soziale Spaltung gab es schon lange vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine. Die alarmierenden Zahlen aus dem aktuellen Armutsbericht stammen ja aus dem Jahr 2021, also vor dem Krieg und den krassen Preissteigerungen, die wir gerade erleben. Dass Hartz IV nicht zum Leben reicht, wusste man auch vorher schon und auch, dass viele Menschen zu Niedriglöhnen arbeiten und die Kinderarmut wächst. Der verbrecherische Krieg gegen die Ukraine und die Inflation haben die Situation noch mal deutlich verschärft. Auch Normalverdienende leiden unter den hohen Preisen für Energie und Lebensmittel. Und die Bundesregierung verteilt die Krisenlast ungerecht, siehe Gasumlage.

Aber der Anstieg der Energiepreise hängt mit dem Krieg und seinen Folgen zusammen. Sind die Sanktionen gegen Russland richtig?

Schirdewan: Die Energiepreise sind auch schon vor dem Krieg angestiegen. In der Europäischen Union sind 30 Millionen Menschen von Energiearmut betroffen. Das hängt zusammen mit der Privatisierung dieses Sektors. Die wirtschaftliche Macht wurde in den Händen weniger konzentriert. Das verhindert nicht nur klimapolitische Lösungen. Es ist auch ein Problem, wenn man die Angst der Bundesregierung sieht, eine Übergewinnsteuer einzuführen. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat zu einer zusätzlichen Preisexplosion geführt, durch die Verknappung des Gasflusses nach Europa durch die russische Regierung. Die gezielten Sanktionen gegen Putin und seinen Machtapparat sind vor diesem Hintergrund völlig richtig. Auch die Sanktionen gegen den militärisch-industriellen Komplex sind völlig richtig.

Das Erwachen der Macht: Auf Star-Wars-Fans demonstrieren.
Das Erwachen der Macht: Auch Star-Wars-Fans demonstrieren. © Sebastian Willnow/dpa

Das heißt, wenn aus Ihrer Bundestagsfraktion von einem „Wirtschaftskrieg gegen Russland“ gesprochen wird, dann ist das Unsinn?

Schirdewan: Ich habe mitbekommen, dass der Begriff „Wirtschaftskrieg“ auch von Medien benutzt wird und von Politikerinnen und Politikern anderer demokratischer Parteien. Ich selbst würde ihn nicht benutzen, weil ich die Sanktionen für legitim halte, um einen völkerrechtswidrigen Aggressor in die Schranken zu weisen, und sie dazu beitragen, diesen fürchterlichen Krieg so schnell wie möglich zu Ende zu bringen. Das ist auch die Position, die wir mit großer Mehrheit beim Parteitag in Erfurt beschlossen haben.

Warum hat dann im Bundestag in dieser Woche Frau Wagenknecht für die Linke gesprochen und dabei erneut vom „Wirtschaftskrieg“ gegen Russland gesprochen, Frau Wissler? So bleibt doch der Eindruck, dass dies die Position der Partei ist.

Wissler: Das war eine Entscheidung des Fraktionsvorstandes, nicht der Parteivorsitzenden. Wir sind der Meinung, dass Abgeordnete, die für die Fraktion reden, die beschlossenen Positionen der Linken vertreten sollten. Wenn sie das nicht können, dann sollte jemand anderes reden. Deshalb hielten wir diese Redezuteilung für falsch und haben das auch deutlich gemacht. Wie zu erwarten war, entspricht die Rede in Teilen nicht unseren beschlossenen Positionen und sorgt verständlicherweise für Unmut innerhalb der Partei und in unserem Umfeld.

Zur Person

Seit dem Erfurter Parteitag vom Juni 2022 bildet Martin Schirdewan gemeinsam mit Wissler die Doppelspitze der Linken. Er löste Wisslers vorherige Ko-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow ab, die nicht wieder angetreten war. Der 47-jährige promovierte Politikwissenschaftler aus Thüringen gehört seit 2017 dem Europaparlament an, wo er seit 2019 als Ko-Vorsitzender der Linksfraktion amtiert. pit

In Erfurt gab es die Hoffnung, dass sich die innerparteiliche Auseinandersetzung über diese Fragen klären würde. Es zeigt sich aber, dass dieser Konflikt nicht ausgestanden ist. Wie wollen Sie dieses Dilemma lösen als Parteispitze?

Wissler: Der Parteitag war sich nicht an jeder Stelle einig, aber hat klare Entscheidungen getroffen. Daran sollten sich alle halten, und die Mehrheit macht das auch. Wir haben als Linke gerade jetzt eine riesige Verantwortung, sozial gerechte Alternativen zur Politik der Ampel zu benennen.

Die Demo in Leipzig war bewusst auf einen Montag gelegt worden. Das war umstritten, wegen der historischen Vorbilder der Montagsdemonstrationen und dem Umstand, dass es jahrelang von Pegida rassistische Kundgebungen unter diesem Namen gab. Ist der Montag der richtige Tag für Ihre Demos?

Wissler: Es wird an allen Wochentagen demonstriert, und auch an Montagen sollten wir rechten Kräften nicht die Straße überlassen. Ich finde die Diskussion um den Wochentag ein bisschen schräg. In Frankfurt gab es jahrelang Montagsdemonstrationen gegen den Flughafenausbau. 2004 gab es die großen Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV, montags demonstrieren hat nicht Pegida für sich gepachtet.

Wie hätte das Entlastungspaket ausgesehen, wenn statt der FDP die Linke mit am Verhandlungstisch gesessen hätte?

Wissler: Ein Riesenproblem ist, dass die Regierung nicht an das Thema Gaspreisdeckel rangegangen ist. Wir brauchen kostengünstige Grundkontingente. Wir kritisieren, dass die Menschen in Hartz IV in diesem Jahr überhaupt nicht entlastet werden, sondern erst im nächsten Jahr. Statt Einmalzahlungen, die verpuffen, sind monatliche Hilfen für kleine und mittlere Einkommen nötig. Außerdem kann ein Bis-zu-69-Euro-Ticket nicht die Anschlusslösung für ein Neun-Euro-Ticket sein, weil sich viele Menschen das gar nicht leisten können. Ein konsequentes Verbot von Strom- und Gassperren hätten wir richtig gefunden. Und natürlich eine Übergewinnsteuer, um all das zu finanzieren. Auch die Gasumlage muss weg. Sie ist ein total falsches Konstrukt, weil sie diejenigen trifft, die zufällig mit Gas heizen – worauf Menschen, die zur Miete wohnen, gar keinen Einfluss haben.

Protestierende in Leipzig, maskiert im Stil der kapitalismuskritischen Netflix-Reihe „Haus des Geldes“.
Protestierende in Leipzig, maskiert im Stil der kapitalismuskritischen Netflix-Reihe „Haus des Geldes“. © dpa

Die Bundesregierung spricht von 65 Milliarden Euro, die für dieses Entlastungspaket gebraucht werden, und von 95 Milliarden Euro für alle drei Pakete zusammen. Wie viel Geld wäre aus Ihrer Sicht notwendig?

Wissler: Das Paket der Bundesregierung klingt wuchtig. Allerdings kommen die genannten 65 Milliarden ja nicht nur aus dem Bundeshaushalt. Länder und Kommunen sollen das nach dem Willen der Ampel finanzieren. Ein Inflationsgeld, damit Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen gut über den Winter kommen, würde etwa 20 Milliarden kosten. Der Gaspreisdeckel wird auf 17 Milliarden Euro jährlich geschätzt. Großbritannien setzt einen solchen Deckel gerade für zwei Jahre auf Strom und Gas fest. Das Neun-Euro-Ticket hat 2,5 Milliarden Euro für drei Monate gekostet.

Wie wäre das zu finanzieren?

Schirdewan: Die großen Mineralölkonzerne und Gaskonzerne gehen durch diesen für sie so lukrativen Winter, ohne einen Cent abdrücken zu müssen. Allein die Mineralölkonzerne machen einen Übergewinn hier in Deutschland von 38 Milliarden Euro. Man muss sich auch ganz genau die Rüstungskonzerne anschauen. Außerdem müssen die Superreichen stärker herangezogen werden, wenn es um eine gerechte Verteilung der Kosten der Krise geht, durch eine Vermögensabgabe oder durch eine Wiedereinführung der Vermögensteuer.

Die sozialen Probleme liegen auf der Hand. Aber in Niedersachsen müssen Sie demnächst wieder eine Wahl befürchten, bei der Sie unter fünf Prozent landen. Warum dringen Sie nicht durch mit diesem Thema?

Wissler: Wir haben noch vier Wochen, um dafür zu kämpfen, dass wir in den niedersächsischen Landtag einziehen. Im Moment habe ich den Eindruck, dass die Partei so mobilisiert ist wie lange nicht mehr. Für unsere Vorschläge gibt es breite Zustimmung in der Gesellschaft, so befürworten 80 Prozent der Menschen eine Übergewinnsteuer. Auch dass die Bundesregierung nun wenigstens ein paar Ungerechtigkeiten korrigiert, hat etwas mit dem öffentlichen Druck zu tun.

Der Parteitag in Erfurt mit Ihrer Wahl an die Parteispitze sollte ein Aufbruch sein. Was ist jetzt anders, was ist besser mit dieser Doppelspitze?

Schirdewan: Das kann ich nicht beurteilen, das müsstest Du sagen, Janine!

Wissler: Ich will keine Vergleiche ziehen. Ich glaube einfach, dass Martin und ich ein gutes Team sind. Wir haben eine gemeinsame Idee, wo wir mit der Partei hinwollen.

Schirdewan: Wir teilen die Überzeugung, dass es eine moderne sozialistische Gerechtigkeitspartei braucht, die dieser Regierung klarmacht, dass es zu starken sozialen Korrekturen kommen muss.

Proteste sind kein Selbstzweck.

Janine Wissler

Wissler: Dadurch, dass Martin Parteivorsitzender ist, hoffe ich auch, dass unsere europapolitischen Ideen eine stärkere Rolle spielen. Gut ist auch, dass der Parteivorstand deutlich kleiner ist als früher. Der neue Vorstand arbeitet sehr konstruktiv zusammen.

Schirdewan: Ich habe den Eindruck, dass sich die Grundstimmung ins Positive gedreht hat. Es herrscht eine große Einigkeit, dass wir als Linke unsere soziale Verantwortung in dieser schwierigen gesellschaftlichen Situation wahrnehmen müssen. Ich spüre eine große Freude, politische Aktivität wieder auf die Straße zu bringen.

Wann wäre Ihr „heißer Herbst“ erfolgreich? Wenn die Regierung weitere Entlastungspakete vorlegt? Wenn möglichst viele Leute auf die Straße gehen? Wenn die Linke in den Umfragen zulegt?

Wissler: Ziel ist, politisch etwas zu verändern. Proteste sind kein Selbstzweck. Wir wollen Druck machen dafür, dass Menschen vernünftig über den Winter kommen. Wenn Menschen ihren Kindern erklären müssen, dass ein Eis oder eine Wassermelone einfach nicht drin ist, wenn Rentner Flaschen sammeln müssen, um über die Runden zu kommen, dann werden wir das nicht hinnehmen. Wir werden uns nie damit abfinden, dass jedes vierte oder fünfte Kind in Armut lebt, und das in einem so reichen Land. Ich halte eine derartige soziale Spaltung auch für absolut demokratiegefährdend. (Interview: Pitt von Bebenburg)

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