„Im Westen nichts Neues“ im Realitätscheck: Experte sieht „Erfahrung von Gewalt und Warten“

Der prämierte „Im Westen nichts Neues“ offenbart ungeahnte Stärken, aber auch bedauerliche und vermeidbare Schwächen sagt Historiker Jörn Leonhard im FR-Interview.
Professor Leonhard, was halten Sie von der Neuverfilmung von „Im Westen nichts Neues“? Trifft der Film die Realität?
Die hohe Aufmerksamkeit für den Film ist gerade jetzt auch der Tatsache geschuldet, dass wir in der Ukraine mit einem Krieg konfrontiert sind, der an die Gewalt des Stellungskrieges im Ersten Weltkrieg erinnert. Kritisch kann man einwenden, wie weit er sich an verschiedenen Stellen von Remarques Roman entfernt – aber das gehört zur Freiheit des Regisseurs, es ist ja keine Literaturverfilmung im engeren Sinne. Besonders gelungen fand ich die optische und akustische Vermittlung des individuellen Kriegserlebnisses. Dazu gehörten die Kontingenz, das Nichtvorhersehbare der Gewalt. Es gibt einen zweiten Aspekt, den der Film sehr überzeugend adressiert, nämlich die Frontgemeinschaft. Damit war nicht der kollektive Hurra-Patriotismus der Kriegsgesellschaft gemeint, sondern der besondere Zusammenhalt einer kleinen Gruppe von vielleicht fünf bis zehn Soldaten, bei der jeder sich auf den anderen verlassen konnte. Daraus entstand ein besonderes Kameradschaftsideal, in dem es nicht um abstrakte Vorstellungen von Volk und Nation ging, sondern um die Bedingungen des Überlebens in den Todeszonen der Front. Diese kleinen Gruppen waren Schicksals- und Überlebensgemeinschaften, und sie entstanden häufig gerade aus der tiefen Desillusionierung der Soldaten in diesem Krieg.
Wie erlebten die Soldaten im Ersten Weltkrieg die Front in ihren Schützengräben?
Der Stellungskrieg an der Westfront war vor allem eine kontingente Erfahrung von Gewalt und Warten außerhalb der konkreten Einsätze. Gewalteinwirkung resultierte nur noch ausnahmsweise im Nahkampf Mann gegen Mann. Viel wichtiger wurde die Wirkung von Fernwaffen, zumal der Artillerie – und genau darauf reagierte man ja mit der Anlage immer weiter ausgebauter Schützengräben und Unterstände. Ein Großteil der Verletzungen resultierte aus artilleristischen Fernwaffen und Maschinengewehren.
Es gab die Todesangst.
Zur Person
Jörn Leonhard (55) lehrt Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas am Historischen Seminar der Universität Freiburg. Zu seinen Werken gehören „Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs“ und „Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923“. FR imago images
Es kam jedenfalls zu einer Vielzahl von neuartigen psychischen Angstreaktionen. Die Zeitgenossen erfinden dazu neue Bezeichnungen wie den „Kriegszitterer“ oder „shell-shocked“. Dabei muss man bedenken, dass die Konzentration von schwerem Artilleriebeschuss auf begrenzte Räume noch um ein Vielfaches höher war als wir es derzeit in der Ukraine erleben. Das machte etwa aus der Schlacht von Verdun eine so traumatisierende Erfahrung für deutsche und französische Soldaten.
Welche Folgen hatte das für jene, die überlebten, psychisch und physisch?
Zunächst war es eine ganz neue qualitative und quantitative Dimension: neue Krankheitsbilder ohne sichtbare physiologische Ursachen, die Hunderttausende von Soldaten davontrugen. Die psychische Belastung mussten schließlich auch Kommandeure anerkennen, indem sie den Rhythmus veränderten, in dem Soldaten in besonders intensiv betroffenen Feuerzonen eingesetzt wurden, bevor sie abgelöst wurden. In zahllosen Feldpostbriefen und den Tagebüchern der Frontsoldaten liest man daher auch immer wieder von der Belastung des Wartens vor einer Ablösung oder in der Etappe vor einem Einsatz. Viele Soldaten empfanden diese Passivität, das Nachdenken über mögliche Gefahren häufig als noch belastender als den Einsatz selbst.
Ihr Fazit?
Der Film vermittelt sehr unmittelbar die traumatisierende Erfahrung von Soldaten in einem modernen Stellungskrieg. Kritischer fällt mein Urteil zu anderen Aspekten aus – aber das gehört zur künstlerischen Freiheit der Regisseure. So fügt der Film im Vergleich zum Buch eine zusätzliche Ebene ein, nämlich die politischen Verhandlungen im Vorfeld des Waffenstillstands in Compiègne im November 1918 – das kann man tun. Doch es gab in den letzten Tagen des Krieges an der Westfront keine großangelegten militärisch sinnlosen Angriffe mehr, so wie der Film das nahelegt. Als Idee existierte das allenfalls in der Marineführung, also eine letzte große Schlacht mit einem ehrenvollen Untergang anstatt der kampflosen Auslieferung der Flotte. Aus diesem Zusammenhang entstanden im November die Matrosenaufstände, von denen die Revolution 1918 ihren Ausgang nahm.