„Ich hoffe noch immer, dass es eine tolle Documenta wird“

Miki Lazar von der Jüdischen Gemeinde Kassel über antisemitische Symbole und eine notwendige Debatte auf Augenhöhe.
Herr Lazar, auf der Documenta schockiert die antisemitische Bildsprache in einem Werk der Gruppe Taring Padi. Sind Sie überrascht oder war das abzusehen?
Als Teil der Jüdischen Gemeinde haben wir unsere Bedenken schon früh an die Documenta kommuniziert. Im Februar haben wir eine Presseerklärung abgegeben, in der wir gesagt haben, dass wir weder die Documenta noch Ruangrupa per se als antisemitisch sehen. Wir haben dann abgewartet, bis die Ausstellung beginnt, und haben gehofft, dass wir da nichts Antisemitisches zu sehen bekommen - trotz unserer Befürchtungen schon alleine mit Blick auf die Teilnehmerliste.
Müssen wir damit rechnen, noch mehr antisemitische Kunst zu entdecken?
Wir laufen nicht über die Documenta, um absichtlich nach antisemitischen Werken zu suchen. Das machen andere schon, sie teilen diese Dinge dann in WhatsApp-Gruppen und anderen sozialen Medien. Aber ja, es gibt andere Werke, die mindestens grenzwertig sind. Wenn jemand, der aus dem Gazastreifen kommt, das israelischen Bombardement mit den Nazibomben von Guernica vergleicht, dann stößt mir das auf. Diesen Vergleich kann ich nicht verstehen. Ich verurteile vehement, was in Gaza passiert. Vonseiten Israels genauso wie vonseiten der Hamas. Trotzdem kann man diese Vergleiche nicht ziehen.
Documenta in Kassel: „Ist gar kein Wimmelbild“
Weil es um das Feindbild des Juden als dem Bösen geht?
Genau. Das „Wimmelbild“ auf dem Friedrichsplatz – was meiner Meinung nach gar kein Wimmelbild ist, denn man muss die Motive ja noch nicht mal suchen – spricht eine eindeutige Sprache: Das sind keine mehrdeutigen Symbole. Antiimperialistische, antikapitalistische Kritik wird dort mit dem Judentum in Verbindung gebracht. Die Juden sind die „Kapitalistenschweine“. Da ist die Grenze überschritten. Solche Werke sehen wir auch an anderen Orten der Documenta, im Hallenbad Ost zum Beispiel.
Das Publikum ist in einem Dilemma: Auf der einen Seite möchten die Menschen die Perspektive des globalen Südens kennenlernen und sich kritisch mit ihr auseinandersetzen, auf der anderen Seite sind sie jetzt schwerstens verunsichert, was sie von der Documenta halten sollen.
Die Bilder, die gezeigt werden, diese Motive von der „jüdischen Sau“ oder dem Juden mit Vampirzähnen – die sind vielleicht von Menschen aus dem globalen Süden gemalt. Aber sie sind doch eine Erfindung des globalen Nordens! Sie stammen aus der Nazizeit und von davor. Die Imperialisten und Kapitalisten haben dieses Image sozusagen exportiert, und nun wird es nach Deutschland re-importiert, und dann staunt man.
Wieso passiert das?
Antisemitismus ist ein globales Problem. In Deutschland sind antisemitische Äußerungen verboten, aber nicht überall auf der Welt. Diese Symbole sind weitverbreitet. Das Statement der Documenta, dass sie die Gefühle der Jüdischen Gemeinde in Kassel nicht verletzen will, greift zu kurz und redet das Problem klein. Das eben nicht nur in Kassel existiert. Als ob die Juden und Jüdinnen in Frankreich nicht davon betroffen wären.
Das Bild, um das es geht, wurde schon seit 20 Jahren ausgestellt, heißt es. Angeblich ist niemandem die antisemitische Botschaft aufgefallen.
Das zeigt: Es wird hingenommen, dass es Antisemitismus gibt. Ich selbst kenne Menschen, die ich nicht als antisemitisch wahrnehme, und die mir Dinge sagen wie „Du hast das Geschäft im Blut.“ Die Vorurteile sind bei uns allen da. Es heißt doch: Wir sind alle kleine Rassisten.
Zur Person
Michael Miki Lazar ist Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Kassel wie auch des Documenta-Forums, dem Förderverein der Kunstschau.
Da wäre doch die Documenta eine Chance zur Selbstreflexion gewesen?
Ich habe das sehr gehofft und war mir auch sicher, dass es möglich ist. Ich hatte gehofft, dass sie Message von Ruangrupa auch von dem Kollektiv selbst verinnerlicht wird. Dass sie von Anfang an diese Verteidigungsstrategie fuhren, halte ich für unangebracht. Ein Satz, den ich nicht ausstehen kann, ist: „Ich habe nichts gegen Juden, aber...“ „Ich bin kein Rassist, aber...“ Wenn man damit anfängt, hat man schon ein Problem. „Wir sind keine Antisemiten, aber man darf doch wohl Israel kritisieren.“ Das ist so ein blöder Satz. Als ob es verboten ist, Israel zu kritisieren.
Ist es jetzt vorbei mit der Gesprächsbereitschaft?
Von meiner Seite aus ist das Gespräch noch immer möglich: Wenn es einen symbolischen Akt der Verständigung gibt, auch wenn man nicht einer Meinung ist – wobei Antisemitismus natürlich keine Meinung ist – und die antisemitische Bildsprache eindeutig als solche anerkannt wird. Es ist nötig, dass das Kollektiv Ruangrupa sich als Ganzes eindeutig positioniert. Es gab natürlich auch inoffizielle Gespräche und Annäherungen, sogar eine persönliche Entschuldigung habe ich bekommen. Manche von Ruangrupa sind richtig lieb, verständnisvoll und mitfühlend. Sie möchten nicht beleidigen, aber leider sind sie in Bezug auf das Thema Antisemitismus absolut ignorant.
Woher kommt das Ihrer Meinung nach?
Sie haben vielleicht andere Probleme im Kopf.
Zum Beispiel?
Vielleicht die eigene Diktatur zu Hause. Oder, und das ist problematisch: Sie sind vielleicht nicht frei in ihrer eigenen Kunst- und Meinungsfreiheit. Ich als Israeli, der in Deutschland lebt, habe garantiert mehr Freiheiten, als jemand, der gerade in Gaza oder Ramallah lebt oder in Indonesien.
Sie meinen, die Künstler, Künstlerinnen und Kollektive, die auf der Documenta 15 ausstellen, müssen in ihren eigenen Ländern mit Konsequenzen rechnen für sich oder ihre Familien?
Das könnte sein, wenn sie Themen bearbeiten, die in diesen Ländern verboten sind. Ich frage mich: Schafft jemand, der im Gazastreifen lebt, es, eine Kritik gegenüber seinen eigenen Landsleuten zu äußern? Ich hätte gerne mit jemandem aus Gaza auf Augenhöhe diskutiert und dabei beide Seiten kritisiert, nicht nur eine. Wie sieht es mit Rassismus aus? In Israel haben wir ihn garantiert. Wie sieht es in Gaza aus? Und wo wir beim Rassismus sind: Trotz meiner Kritik ist es mir wichtig zu sagen, dass es nicht akzeptabel ist, wenn palästinensische Kollektive oder Ruangrupa rassistisch angefeindet werden. Das dürfen wir nicht zulassen. Genauso wenig dürfen wir zulassen, dass der Antisemitismus einiger die komplette Ausstellung überschattet und auch die gute Kunst unsichtbar macht. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass es noch immer eine tolle Documenta werden kann.
Das Banner von Taring Padi wird jetzt entfernt. Was halten Sie davon?
Das finde ich okay, weil die vorherige Verhüllung doch eher ein Christo-Akt war. Wenn man etwas zuhängt, macht man es erst recht sichtbar. Die Zeitungen haben das Bild jetzt in voller Pracht gezeigt, es wurde millionenfach abgedruckt. Das war kontraproduktiv für alle. (Interview: Lisa Berins)