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„Wenn Rechtspopulisten Mehrheiten organisieren, dann ist die Erinnerungskultur gefährdet“

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Von: Tatjana Coerschulte

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Schüler:innen besuchen die KZ-Gedenkstätte in Hamburg-Neuengamme. „Man braucht für diese Orte Zeit“, sagt Historiker von Wrochem und kritisiert, dass Lehrpläne dafür immer öfter zu eng gestrickt seien. Foto: Markus Scholz/dpa.
Eine Schulklasse besucht die KZ-Gedenkstätte in Hamburg-Neuengamme. „Man braucht für diese Orte Zeit“, sagt Historiker von Wrochem und kritisiert, dass Lehrpläne dafür immer öfter zu eng gestrickt seien. Foto: Markus Scholz/dpa. © picture alliance/dpa

Am 27. Januar wird der Opfer der NS-Verbrechen gedacht. KZ-Gedenkstättenleiter Oliver von Wrochem warnt im Interview vor dem Vergessen durch äußere Einflüsse – und vor Versäumnissen im Bildungssystem.

Herr von Wrochem, der Holocaust-Gedenktag am 27. Januar wird in diesem Jahr zum 27. Mal begangen. Ist er ein Ritual geworden?

Mit einem Generalangriff auf Rituale habe ich ein Problem. Es sind zwei verschiedene Dinge, ob man Rituale für wichtig hält oder ob man denkt, dass sie eine entkernte Erinnerung darstellen. Rituale sind sinnvoll und notwendig für eine Gesellschaft, die sich erinnern will. Allerdings nur dann, wenn sie mit Inhalten gefüllt sind und diese Inhalte müssen anschlussfähig sein an die gegenwärtigen Erfahrungswelten der Menschen.

Der Gedenktag wurde 1996 installiert, gut 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Seit dem ersten Gedenktag sind nochmals 27 Jahre vergangen. Das ist im Sinne der Geschichtswissenschaft fast eine Generation. Welche Funktion hat der Gedenktag heute?

Vielleicht ist er heute sogar wichtiger als vor 27 Jahren, weil die Gesellschaft sich noch einmal stark verändert hat und wir heute mit Problemen umgehen müssen, mit denen wir gar nicht mehr gerechnet hatten: das Aufkommen von Rechtspopulismus in Europa, aber auch die geschichtspolitischen Verwerfungen im Kontext des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Insofern ist es wichtig, dass man an die Verbrechen der NS-Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs erinnert und an die Opfer dieser Verbrechen, in ihrer ganzen Breite.

Wie meinen Sie das?

Der 27. Januar wird ja oft als „Holocaust-Gedenktag“ bezeichnet, und er wird zunehmend im Kontext der Erinnerung an die jüdischen Verfolgten gesehen. Aber in Deutschland ist er eingeführt worden als Tag der Erinnerung an alle Opfergruppen des Nationalsozialismus. Diese Bedeutung sollte er unbedingt beibehalten.

Bekommen Sie bei Ihrer Arbeit in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme oder in der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in Deutschland den Einfluss rechtspopulistischer Gruppen und Parteien zu spüren?

Bezogen auf die KZ-Gedenkstätten in Deutschland ist Rechtspopulismus schon ein Faktor, der uns zunehmend Sorgen bereitet. Wir sehen in den letzten Jahren eine Zunahme rechtspopulistischer Ideologie in Deutschland und in ganz Europa, zum Beispiel in Ungarn oder in Schweden. Wenn diese Entwicklung anhält, ist unsere Erinnerungskultur gefährdet. Man kann als Gesellschaft versuchen, dem entgegenzutreten, aber wenn rechtspopulistische Parteien tatsächlich Mehrheiten für ihre Sache organisieren, dann sind Gedenkstätten und die Erinnerungskultur als Ganzes nicht mehr geschützt.

Warum sind diese Gedenkstätten von Bedeutung?

Die Gedenkstätten erinnern an die Vielfalt der Verbrechen, die von Deutschland und der Mehrheit der deutschen Gesellschaft in der Zeit des Nationalsozialismus ausgegangen sind. Es ist wichtig für unsere Gesellschaft, dass sie sich daran erinnert, dass von diesem Land aus Massenverbrechen organisiert und durchgeführt wurden, denen Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. Es ist zu beobachten, dass in der Schule und auch an der Universität die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus eher zurücktritt, und deshalb bekommen die Gedenkstätten eine größere Relevanz als Bildungs- aber auch Forschungsinstitutionen. Gerade die Konzentrationslager-Gedenkstätten in Deutschland sind historische Orte von Verfolgung und von Leid. Es ist für viele Menschen wichtig, diese Orte aufzusuchen und damit einen Bezug herstellen zu können zwischen Orten und Verbrechen.

Wie kommen Sie darauf, dass die Auseinandersetzung in Schule und Universität zurücktritt? Wird Nationalsozialismus als Thema in Unterricht und Vorlesungen seltener?

Ja, das ist mein Eindruck. Es sind andere Themen hinzugekommen, wie der die DDR-Geschichte oder das Thema Kolonialismus. Für die Schulen ist das eine Herausforderung, denn dort ist Geschichte ein Fach von vielen. Die Lehrpläne sind oft so eng gestrickt, dass Exkursionen an außerschulische Lernorte wie eine Gedenkstätte immer schwieriger zu organisieren sind. Man braucht für diese Orte Zeit, damit man sie erkunden kann und Bildungsprozesse nachhaltig initiiert werden können.

Wie kann es sein, dass Schule solche Lernprozesse nicht ermöglicht?

Bei manchen Schulen wird dem Geschichtsunterricht zu wenig Bedeutung beigemessen. Meiner Meinung nach ist er bedeutsam, nicht allein um Wissen zu vermitteln, sondern weil erst die Auseinandersetzung mit geschichtlichen Fragestellungen einen Blick schärft für die gegenwärtigen Herausforderungen, denen zum Beispiel eine Demokratie ausgesetzt ist. Für ein unabhängiges Handeln in der Gegenwart braucht man unbedingt ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein.

Oliver von Wrochem, Leiter KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Foto: Marcus Wiechmann.
Oliver von Wrochem, Leiter KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Foto: Marcus Wiechmann. © Marcus Wiechmann/KZ-Gedenkstätt

Zu Person und Sache

Oliver von Wrochem , 55, leitet seit 2019 die KZ-Gedenkstätte Neuengamme bei Hamburg und ist Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der deutschen KZ-Gedenkstätten. Seit 2022 ist er auch Vorstand der Stiftung Hamburger Gedenkstätten. Der Historiker war 2001/2002 Mitarbeiter der „Wehrmachtsausstellung“ des Hamburger Instituts für Sozialgeschichte und hat seine Dissertation über den Generalfeldmarschall Erich von Manstein verfasst

In Neuengamme befand sich von 1938 bis 1945 das größte Konzentrationslager im Nordwesten Deutschlands. Dort wurden mehr als 100 000 Menschen im Hauptlager und in mehr als 85 Außenlagern gefangen gehalten und getötet. Mindestens 42 900 Menschen starben. FR

Wie ist die Situation an der Universität?

Dort ist ebenfalls die Herausforderung, dass Themen dazugekommen sind wie Kolonialgeschichte, Globalgeschichte oder Public History und viele Fachbereiche sich verändert haben. Einige denken, dass der Nationalsozialismus ausgeforscht ist, und keine neuen Erkenntnisse zu gewinnen sind, weswegen das Thema in den Hintergrund rückt. Eine gravierende Folge davon ist, dass zunehmend weniger Menschen ausgebildet werden in dem Themenbereich. Wenn man zum Beispiel an das Personal von Gedenkstätten denkt – es ist gar nicht so einfach, gut ausgebildete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit dem Schwerpunkt Nationalsozialismus zu gewinnen, weil das an der Universität eben nicht mehr so selbstverständlich unterrichtet wird wie vor 20 Jahren.

Man hat im öffentlichen Diskurs aber nicht den Eindruck, dass dieses Thema in den Hintergrund träte.

Es ist medial nicht in den Hintergrund gerückt, da ist dieses Thema sehr präsent. Auch die Politik betont oft, dass es wichtig bleibt, an den Nationalsozialismus zu erinnern. Aber in den Ausbildungseinrichtungen ist es meiner Beobachtung nach etwas anders.

Vielleicht gibt es fast 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs keine offenen Fragen mehr.

Das ist ein Trugschluss. Viele Themen sind nicht ausgeforscht, wie zum Beispiel die Verfolgung sexueller Minderheiten, die in diesem Jahr in Zentrum des Gedenkens im Deutschen Bundestag steht – gerade bei den lange zu wenig beachteten beziehungsweise marginalisierten Opfergruppen sind noch viele Dinge zu tun. Ein anderes Beispiel ist das Schicksal der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, das stärker im öffentlichen Bewusstsein verankert werden muss. Auch die Geschichte der ehemaligen Konzentrationslager als Verfolgungsorte ist keineswegs ausgeforscht, da ist ebenfalls noch viel zu tun. Die Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in Deutschland ist gerade dabei, dafür zu werben, dass die Gedenkstätten selber als Forschungseinrichtungen gestärkt werden, damit sie diese blinden Flecken schließen können.

Mit zunehmendem zeitlichen Abstand erfährt das Thema Nationalsozialismus in der Vermittlung eine Historisierung. Es gibt nur noch sehr wenige, hochbetagte Zeitzeuginnen und -zeugen. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Wir haben uns schon lange darauf vorbereitet, dass die Vermittlungsarbeit anders funktionieren muss als zu einer Zeit, in der viele Menschen, in unserem Fall insbesondere die Verfolgten, noch eine primäre Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus hatten. Heute präsentieren die meisten Gedenkstätten in ihren Ausstellungen und im Internet, verstärkt auch im Social-Media-Bereich, digitale Angebote, zum Beispiel Interviews mit Überlebenden.

Das ist dennoch ein anderer Zugang als ihn ein konkretes Gegenüber erzeugen kann.

Das stimmt, es fehlt die direkte Begegnung. In Neuengamme arbeiten wir daher auch mit Kindern und Enkeln von Verfolgten sowie mit Nachkommen von Tätern, die in Begegnungen vermitteln, weshalb der Nationalsozialismus für ihr eigenes Leben eine wichtige Rolle spielt. Wir versuchen ein Bewusstsein zu schaffen, dass diese Zeit jeden angeht. In Deutschland leben sehr viele Menschen, deren Vorfahren in der Zeit des Nationalsozialismus schon hier gelebt haben, das ist immer noch die deutliche Mehrheit. Aber auch Menschen mit Migrationshintergrund in ihrer Familie – wo auch immer sie herkommen und in welcher Generation sie hier leben – haben Bezüge zu den Verbrechen des Nationalsozialismus. Der Zweite Weltkrieg war ein globaler Krieg und die NS-Herrschaft nicht auf Deutschland beschränkt, sondern auf viele besetzte Länder Europas.

Wie kommt das in Ihrer Arbeit zum Tragen?

Es ist sehr wichtig wahrzunehmen, wer eigentlich in Deutschland lebt, und die Erfahrungen und Perspektiven aller ernst zu nehmen. Es gibt in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme Projekte mit Menschen, die einen europäischen Migrationshintergrund haben und schon lange hier leben, die nach ihren Erfahrungen in Deutschland gefragt werden und nach ihrem Zugang zur Erinnerungskultur. Und es gibt Projekte, in denen Jugendliche nach ihren Bezügen zum Zweiten Weltkrieg gefragt werden und dabei auch in Austausch treten mit Verfolgten und ihren Angehörigen aus ganz Europa. Hieran zeigt sich, wie sich unsere Zugänge zum historischen Gegenstand verändern.

Sie laden Nachkommen von Tätern und Täterinnen in die Gedenkstätte ein und haben früher bereits geäußert, dass man sich auch mit Täterschaft auseinandersetzen müsse. Warum finden Sie das wichtig?

Gedenkstätten sind immer Orte der Verfolgung, aber auch Orte von Täterschaft. Zu jedem Opfer gehören Menschen, die diese Verbrechen verübt haben. Gerade in einer Zeit, wo wir Entwicklungen erleben, von denen wir dachten, dass sie der Vergangenheit angehören, müssen wir uns fragen: Wie kann so etwas entstehen? Wie können demokratische Gesellschaften in Diktaturen umschlagen? Wie war das damals möglich? Welche Akteure haben daran mitgewirkt? Das waren ja nicht alles von Anbeginn Verbrecher, sondern es gab Angebote an viele Menschen mitzumachen, von denen diese aus unterschiedlichen Gründen Gebrauch gemacht haben. Es gab damals Handlungsmöglichkeiten und Entscheidungsspielräume. Es geht dann darum, zu vermitteln, dass Menschen auch heute Handlungsmöglichkeiten haben und Entscheidungen treffen und sich nicht verstecken können hinter den Entscheidung anderer.

Sie fordern junge Menschen auf, beim Thema Nationalsozialismus in die eigenen Familien zu schauen. Was versprechen Sie sich davon?

Familie ist ein Resonanzraum, der auch heute noch Bedeutung hat. Es gibt Studien dazu, dass der Nationalsozialismus in der Gesellschaft und medial kritisch aufgearbeitet wird, aber in vielen Familien ist das bis heute nicht der Fall. Da ist oft noch die Meinung verbreitet, dass die eigenen Großeltern zu den Opfern gehört haben. Wenige wollen wahrhaben, dass da auch Täter und Täterinnen dabei waren. Bei den Nachkommen von Verfolgten ist es viel selbstverständlicher, dass sie sich mit der Familie beschäftigen, weil sie oft jemanden durch die NS-Gewalt verloren haben. Zudem geben Überlebende ihre Erfahrungen an die Kinder und Enkel weiter. Für die Angehörigen von Verfolgten sind Gedenkstätten deshalb wichtige Orte der Erinnerung, weil sie diese mit ihrer Familiengeschichte in Verbindung bringen. Diese Dimension des direkten Bezugs ist für unsere Arbeit sehr wertvoll.

Wie erklären Sie einem oder einer Jugendlichen, warum man dieses Kapitel der deutschen Geschichte kennen sollte?

Das NS-Regime hat zum einen vergleichbare Praktiken angewandt, wie wir sie bereits aus der Zeit des Kolonialismus, aber auch zum Beispiel aus dem Stalinismus kennen. Wenn man sich die Verfolgung gesellschaftlicher Minderheiten anschaut, sieht man viele Traditionen, die es schon lange vorher gab und die im Nationalsozialismus fortgesetzt worden sind. Nichtsdestotrotz hatte der Nationalsozialismus eine ganz eigene Qualität, weil kein Regime vor ihm so systematisch und auch mit voller Absicht ganze Bevölkerungsgruppen, insbesondere Jüdinnen und Juden, verfolgt hat und vernichten wollte. Das hat es in dieser Dimension zuvor nicht gegeben, insofern bleibt das die Zäsur im 20. Jahrhundert. Auch deshalb ist es zentral, dass es Raum dafür gibt, dieses Kapitel der deutschen Geschichte weiterhin zu vermitteln – um zu verstehen wie es dazu kommen konnte.

Interview: Tatjana Coerschulte

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