Derzeit sind es Iraker selbst, die den eigentlichen Kampf gegen den IS führen: die Kurden im Norden, im Zentralirak die Schiiten, verstärkt hoffentlich auch die irakische Armee. Aber um die Gebiete zurückzuerobern, in denen der IS die Zivilbevölkerung terrorisiert, benötigen die Iraker effektive militärische Unterstützung durch eine internationale Allianz, möglichst mit UN-Mandat.
Haben Sie Folgen des westlichen Eingreifens gesehen?
Ohne den entschlossenen Widerstand der Peschmerga, die anfangs überrascht worden waren, aber eben auch nur über veraltete Waffen verfügen, sowie das sofortige, entschlossene Eingreifen der USA im Norden wäre es dort höchstwahrscheinlich zu einem Genozid gekommen. Und hätte Großajatollah Ali Al-Sistani die Schiiten im Süden nicht ebenso klar zur Verteidigung aufgerufen, wäre jedenfalls Samarra, womöglich auch Bagdad ebenfalls überrollt worden.
Diese Milizen mit deutschen Waffen auszurüsten, halten Sie also für richtig?
Nach meinen Beobachtungen und Gesprächen ist die Möglichkeit sehr real, dass die Kurden die modernen Waffen, die sie erhalten, auch einsetzen werden, um ihren eigenen Staat zu erkämpfen – und sei es nur als Druckmittel. Wenn Deutschland ihnen also moderne Waffen in die Hand gibt, verstärkt das die Autonomiebestrebungen in einem ohnehin auseinanderdriftenden Staat. Das ist gefährlich. Nur: Die Alternative, die Kurden den Kampf gegen den IS mit veralteten Waffen ausfechten zu lassen, ist noch gefährlicher.
Ein Dilemma?
Ein gewaltiges Dilemma, dem wir in Deutschland nur entgehen könnten, wenn wir Bodentruppen entsenden würden, die aufpassen, dass deutsche Waffen in den richtigen Händen bleiben und bestimmungsgemäß eingesetzt werden. Aber das sind Wünsch-dir-was-Überlegungen ohne realistische Basis.
Die Frage nach der westlichen Verantwortung verbindet sich bisweilen – anders als bei Ihnen – mit der Absage an militärische Gewalt.
Die pazifistische Position in Fällen wie jetzt im Irak finde ich verheerend, verantwortungslos und in der Konsequenz sogar verbrecherisch. Man opfert Menschen für die Reinheit des eigenen Gewissens. Ich bestreite gar nicht das Risiko falscher Entscheidungen und schwer wiegende Konsequenzen bei einer Entscheidung für militärische Gewalt. Wer sich aber stattdessen gar nicht entscheidet, wie es bei dem Aufstand in Syrien geschah, der lange Zeit friedlich und säkular war, verschlimmert die Lage und lädt noch größere Schuld auf sich. Nichthandeln ist auch ein Handeln. Hätte die internationale Gemeinschaft die syrische Zivilbevölkerung zum Beispiel durch eine Flugverbotszone gegen die Luftangriffe des syrischen Staates geschützt, wäre der IS nicht so stark geworden – das sagt inzwischen ja selbst Hillary Clinton. Natürlich wäre auch eine Flugverbotszone riskant gewesen, siehe Libyen – aber die richtige Entscheidung gibt es in manchen Situationen eben nicht, man muss dann abwägen, welche am wenigsten falsch ist.
Die Kritiker wollen ja handeln – aber mit humanitären Mitteln.
Das hat einen berechtigten Kern. Ich habe das Elend der Flüchtlinge in Kurdistan gesehen. Hilfe von außen kommt dort einfach nicht an. Die Menschen schlafen zum Teil seit 30 Tagen auf nacktem Boden, haben keinen Arzt gesehen, werden notdürftig und unter eigenen Entbehrungen von der örtlichen Bevölkerung versorgt. In einem Distrikt wie Sakho, wo ich gewesen bin, kommen 700 000 Flüchtlinge auf 1,3 Millionen Einwohner. Sie öffnen ihre Häuser, lassen Flüchtlinge in ihren Wohnzimmern schlafen, sind aber angesichts des Ansturms von Menschen komplett überfordert. Und das alles findet keine zwei Flugstunden von der Europäischen Union entfernt statt. Das ist desaströs und beschämend.
Was läuft da falsch?
Das kann ich nicht sagen. Ich sehe, dass sich die Kurden kümmern – auch um die nicht-muslimischen Minderheiten. Sie kämpfen, sie helfen, sie mühen sich bis zur Erschöpfung. Also, den Kurden kann man keinen Vorwurf machen. Ich sehe auch westliche Helfer, die sich wirklich aufopferungsvoll bemühen. Aber es reicht einfach vorn und hinten nicht. Die angeblich so wichtige „humanitäre Komponente“ und die Solidarität mit den verfolgten Christen oder Jesiden, die bei uns oft wortreich eingeklagt wird, bleibt faktisch aus. In drei bis vier Wochen setzt dort der große Regen ein, es wird bitterkalt werden. Bis dahin müssen Notunterkünfte her. Sonst wird es zu Massenerkrankungen und Seuchen kommen.
Interview: Joachim Frank