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Heuchlerischer Moralismus

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Tom Segev ist Historiker und Journalist und arbeitet für die Zeitung Haaretz.
Tom Segev ist Historiker und Journalist und arbeitet für die Zeitung Haaretz. © dpa

Tom Segev, Journalist der israelischen Zeitung Haaretz, analysiert, warum der Debattenbeitrag von Günter Grass substanzlos ist.

Von Tom Segev

"Was gesagt werden muss“ ist der Titel, den Günter Grass seinem kontroversen Gedicht gab. Er beschuldigt darin Israel, mit seinem Kernwaffenarsenal den Weltfrieden zu bedrohen. Das war sein erster Fehler: Es musste nicht gesagt werden, weil es bereits von vielen anderen gesagt wurde – auch in Israel.

Seit vielen Monaten tobt in Israel und weltweit eine erhitzte Debatte darüber, ob man Irans Nuklearprogramm mit einem präventiven Militärschlag stoppen sollte. Argumente dafür und dagegen befassen sich mit der Weisheit, Effektivität und möglichen Ergebnissen einer solchen Aktion. Die Debatte findet auf einer strategischen, einer praktischen und einer moralischen Ebene statt. Grass fügt dem nichts hinzu.

Eine Partei in dieser Debatte vertritt der frühere Mossad-Chef Meir Dagan. Dieser teilt Grass’ Sichtweise, dass der Iran nicht bombardiert werden sollte. Dagan hat das Schweigegelübde der Geheimdienstler gebrochen und seitdem nicht aufgehört zu reden. Man sollte ihm zuhören. Wenige Menschen wissen mehr über den Iran als er.

Aber würde Dagan Gedichte veröffentlichen, dann würden die Leute sagen, er hätte den Verstand verloren. Das Gleiche könnte man über Grass’ Einmischung sagen; nicht weil er falsch liegt – das mag sein oder auch nicht – sondern weil er nicht besser informiert ist, als der durchschnittliche Nachrichtenkonsument.

Sofern sich Premierminister Benjamin Netanjahu oder Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad ihm nicht jüngst anvertraut haben, ist seine Meinung gehaltlos. Grass kritisiert die deutsche Regierung dafür, Israel ein weiteres U-Boot zu verkaufen. Das ist ein berechtigter Einwand zu einer Angelegenheit, die demokratisch vom deutschen Volk entschieden werden sollte.

Aber Grass’ Vergleich Israels mit dem Iran ist unfair, weil Israel, anders als Iran, nie damit gedroht hat, ein anderes Land von der Landkarte zu fegen. Und im Gegensatz zu Grass scheinheiliger Darstellung würde eine militärische Aktion gegen Iran unter keinen Umständen zur Auslöschung des iranischen Volkes führen. Denn soweit wir wissen, würden ausschließlich die Atomanlagen des Landes angegriffen.

Wenige würden bezweifeln, dass die Welt ohne iranische Atomwaffen besser wäre. Und nicht nur in Israel – auch Lübeck, wo Grass schreibt, malt und als Bildhauer arbeitet, wird ein besserer Ort sein, wenn Iran die Bombe nicht bekommt. Grass aalt sich in heuchlerischem Moralismus und quält sich damit, Israels atomare Schlagkraft nicht früher verdammt zu haben. Aber dieser Preis ging vor vielen Jahren an Mordechai Vanunu, den israelischen Atomtechniker, der 1986 Details des Atomprogramms an die Presse weitergab.

Heute gibt es Tausende Internetseiten, die sich Israels Kernwaffenarsenal widmen. Man bekommt den Eindruck, dass Grass’ Leistung, das Schweigen zu brechen, kaum mehr ist als eine in sich geschlossene persönliche Erfahrung. Zudem kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er versucht, wieder die Schockwellen zu erzeugen, die vor sechs Jahren sein Geständnis über seinen Dienst in der Waffen-SS hervorrief.

Er lag richtig mit der Annahme, nach seinen anti-israelischen Kommentaren des Antisemitismus beschuldigt zu werden. Grass, so scheint es, sieht sich gezwungen, die ungerechtfertigten Anschuldigungen anzusprechen. So oder so, Sie können sich entspannen, Herr Grass. Sie haben ein ziemlich erbärmliches Gedicht geschrieben, aber Sie sind nicht antisemitisch. Sie sind nicht einmal anti-Israel; auf jeden Fall nicht mehr als der Geheimdienstler Dagan. Sie sagten, Sie hätten mit den letzten Tropfen Tinte geschrieben. Lassen Sie uns hoffen, dass Sie noch genug für einen weiteren schönen Roman haben.

Übersetzung: Marten Hahn

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