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Sawsan Chebli: „Der Hass gegen Einzelne geht nicht allein die Betroffenen etwas an. Er geht uns alle etwas an“

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Von: Martin Benninghoff

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„Der Hass, der mich erreicht, ist oft eine Kombination aus Sexismus und anti-muslimischem Rassismus, er hat damit eine ganz andere Dimension“, erklärt Sawsan Chebli der Frankfurter Rundschau. Bild: Markus C. Hurek
„Der Hass, der mich erreicht, ist oft eine Kombination aus Sexismus und anti-muslimischem Rassismus, er hat damit eine ganz andere Dimension“, erklärt Sawsan Chebli der Frankfurter Rundschau. © Markus C. Hurek

SPD-Politikerin Sawsan Chebli über ihre Erfahrungen von Online-Hass und wie die Gesellschaft reagieren kann.

Frau Chebli, für Ihr Buch haben Sie den Titel „Laut“ gewählt. Warum sind Sie laut?

Ich war fünf Jahre alt, als ich meinen Vater in der Abschiebehaft besucht habe. Als Kind habe ich erlebt, wie unerträglich es ist, keine Stimme zu haben und ohnmächtig einem politischen System ausgesetzt zu sein. Schon früh habe ich mir gesagt, dass ich diese Abhängigkeiten von den politischen Entscheidungen anderer nicht möchte. Laut sein bedeutet deshalb für mich, Dinge, von denen ich meine, dass sie falsch sind und Unrecht nicht einfach so hinzunehmen. Und ich habe früh gemerkt, dass Lautstärke funktioniert, einerseits schenkt sie mir Sinnhaftigkeit und andererseits kann ich durch Lautsein zu Veränderungen beitragen.

Ist Lautstärke Ihr Selbstschutz? Sie beklagen Hate Speech, Hassrede im Netz – und oft werden Sie als Muslimin, Frau und Politikerin persönlich angefeindet.

Es ist in der Tat so, dass der Hass der mich erreicht, oft eine Kombination aus Sexismus und anti-muslimischem Rassismus ist, er hat damit eine ganz andere Dimension. Hinzu kommen bei Frauen oft Gewaltandrohungen, Diffamierungen und das Aberkennen von Kompetenzen und Qualifikationen. Diese Methode ist nicht zufällig gewählt, sondern hat System. Die lettische Politologin Donara Barojan schreibt, dass es zur Verbreitung von Desinformation vier Vorgehensweisen gibt: den Gegner zu disqualifizieren, die Fakten verzerrt darzustellen, vom Hauptthema abzulenken und die Öffentlichkeit zu schockieren. Ich kann diese Analyse aus eigenen Erfahrungen mit Hass und digitaler Gewalt nur bestätigen. Indem Hater mir täglich meine Kompetenzen absprechen, zielen sie auf mich als Person, aber auch auf die Berufsgruppe Politiker:innen insgesamt: So stehen wir da als unqualifizierte Leute, die von Steuergeldern ernährt werden. Das ist brandgefährlich, denn wenn sich solche Narrative festsetzen, verändert sich das Bild von politisch engagierten Menschen in der Öffentlichkeit dauerhaft. Anhaltende Verunglimpfungen führen zudem dazu, dass sich weniger Menschen politisch engagieren wollen. Und das muss uns Sorgen machen, denn das trifft unsere Demokratie im Kern.

Die Politik versucht, das Problem abzumildern, etwa mit dem Netzwerkdurchsuchungsgesetz. Was können Einzelne tun?

Sehr viel, denn der Hass gegen Einzelne geht nicht allein die Betroffenen etwas an. Er geht uns alle etwas an. Es geht um unsere Demokratie, um unser Zusammenleben, um unser aller Sicherheit, um unser aller Leben. Mein Buch ist ein Aufruf an die Zivilgesellschaft, die Beobachterrolle zu verlassen. Wenn man sieht, dass jemand auf der Straße zusammengeschlagen wird, ruft man mindestens die Polizei oder greift sogar selbst ein. Wenn man das nicht tut, macht man sich aufgrund unterlassener Hilfeleistung strafbar. So sollte es auch im Netz sein: Die Regeln, wie wir miteinander umgehen, sollten überall gleich sein. Hass und Beleidigungen dürfen nirgendwo als Teil von Debatten und des Miteinanders akzeptiert werden. Es darf nicht sein, dass es eine rechte Minderheit schafft, das Netz so toxisch zu machen, dass sich Demokrat:innen zurückziehen.

Wie gelingt ihr das?

Organisierte Rechte haben früh die Möglichkeiten im digitalen Raum erkannt und ihn früh für sich erobert. Entsprechend können sie ihn heute viel besser nutzen und wesentlich effizienter in ihm agitieren. Sie bedienen sich dabei Mitteln wie Desinformation, gezielten Diffamierungen und Gewaltandrohungen, um zu spalten, Zwietracht zu säen und die pluralistische Gesellschaft infrage zu stellen. Es gibt richtige Trollnetzwerke, die Hashtags mit Hilfe von Fake-Accounts trenden lassen. So entsteht die Illusion, dass es eine große Anhängerschaft zu etwa rassistischen oder frauenfeindlichen Themen gibt, die die Minderheiten einschüchtern und am Ende mundtot machen sollen. Anna-Lena von Hodenberg von der Organisation Hate Aid kommt in ihrer Analyse zum Schluss, dass fünf Prozent der Nutzer:innen im Netz für 50 Prozent der Likes von Hasskommentaren verantwortlich sind. Das können wir nicht einfach so akzeptieren!

Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat herausgefunden, dass einerseits 64 Prozent der Deutschen große Angst vor Fake News haben. Andererseits gerade in Ostdeutschland viele den öffentlich-rechtlichen Medien misstrauen, die der Verbreitung von Falschinformationen ja viel entgegensetzen, auch wenn sie selbst vor Fehlern natürlich nicht gefeit sind. Wie passt das zusammen?

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist seit langem Zielscheibe rechter Netzwerke. Parolen wie „Lügenpresse“ oder „links-grün versiffte Mainstreammedien“ sind allseits bekannte Versuche, den ÖRR zu diskreditieren. Das ist brandgefährlich, denn im Kern geht es den Angreifern darum, das Vertrauen in demokratische Institutionen insgesamt zu erschüttern und so Demokratien in Europa, denn es ist kein deutsches Problem, die zerstörerischen Angriffe sehen wir auch in anderen europäischen Ländern.

Sie schreiben über sich selbst: „Der Hass hat das Bild, das in der Öffentlichkeit von mir existiert, bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.“ Welches Zerrbild meinen Sie?

Ich möchte die Verzerrungen nicht auch noch durch Verbreitungen an dieser Stelle wiederholen und so manifestieren. Nur so viel: Wenn ich dem Zerrbild, das es von mir da draußen gibt, Glauben schenken würde, wäre ich keine echte Person mit Gefühlen. Es ist kein Zufall, dass solche Zerrbilder ausgerechnet von Menschen wie mir existieren, die sich laut und sichtbar für eine demokratische Gesellschaft starkmachen. Letztendlich geht es darum, einzuschüchtern und kleinzuhalten und zum Schweigen zu bringen. Die Aberkennung von Qualifikation hat – wie gesagt – System.

Zur Person

Sawsan Chebli, 44, ist eine Berliner SPD-Politikerin mit palästinensischen Wurzeln. Von 2014 bis 2016 hat sie als Vize-Sprecherin für das Auswärtige Amt gewirkt. Zuvor war sie Referentin des Berliner Senats für Interkulturelles. Von 2016 bis 2021 war sie Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales in Berlin.

Das Landgericht Heilbronn lehnte soeben eine Klage Cheblis wegen Beleidigung auf Facebook ab. Dort war sie in einem Eintrag als „dämliches Stück Hirn-Vakuum“ bezeichnet worden. Das sei „noch von der Meinungsfreiheit“ gedeckt, so die Richterin.

Es gab kritische Berichte über Ihre Amtsführung, Sie wurden als nicht qualifiziert für das Auswärtige Amt beschrieben …

Ich kenne diese Erzählungen und sie verletzen mich. Bin ich perfekt? Nein. Mache ich Fehler? Mit Sicherheit. Ich freue mich, dass einige ehemalige Mitarbeiter:innen aus dem Auswärtigen Amt und der Senatskanzlei bei der Buchpremiere dabei sind und sich etliche immer wieder solidarisch zeigen. Das bedeutet mir viel. Wissen Sie, als Person im öffentlichen Leben hat man wenig Kontrolle über die Art der Kritik, der man ausgesetzt ist, besonders, wenn sie anonym ausgedrückt wird, auch nicht, dass sie immer wieder reproduziert wird. Das ist fast wie Hassrede im Netz, solche Kritik ist niemals zufällig und niemals konstruktiv.

Sie schreiben über Sexismus, darüber dass Sie als „zu jung und zu schön für eine Staatssekretärin“ abqualifiziert wurden ...

Als ich über den erwähnten Vorfall auf Facebook berichte, erlebte ich meinen ersten Shitstorm. Es war brutal. Es gibt etliche Studien, die belegen, dass Frauen überproportional oft von digitaler Gewalt betroffen sind, und Sexismus im Netz ist digitale Gewalt. Es ist auch bekannt, dass der Hass, der sich gegen Frauen richtet, häufiger strafbar ist als jener, der auf weiße Männer zielt. Auch ich werde täglich sexistisch angefeindet.

Sie sagen, dass Ihre persönliche Niederlage im parteiinternen Wettbewerb um einen Wahlkreis für die Bundestagswahl gegen den früheren Regierenden Bürgermeister Michael Müller in Berlin mit Ihrem Geschlecht zu tun gehabt habe. Gehen Sie da nicht zu weit?

Möglicherweise wäre auch ein Mann kritisiert worden. Ich glaube aber nicht, dass er sexistisch beleidigt worden wäre. Zum Sexismus mischte sich bei mir wie immer anti-muslimischer Rassismus, und in dem Fall kam Klassismus hinzu. Es hieß, ich hätte doch schon genug erreicht als Kind Geflüchteter, solle dankbar sein, was wolle ich denn noch alles?

Sie berichten von antimuslimischen Ressentiments. Die sind nach 9/11 messbar verstärkt worden. Welche erleben Sie?

Ich werde ständig aufgrund meiner Religion angefeindet. Würde ich jemals den Ehrgeiz an den Tag legen, einen Shitstorm zu provozieren, müsste ich wahrscheinlich nur einen zugespitzten Tweet zum Islam absetzen. Der Rassismus gegen Muslime sitzt leider sehr tief. Antimuslimische Einstellungen sind fest in der Mitte der Gesellschaft verankert. 44,1 Prozent der Befragten aus der Leipziger Autoritarismus-Studie sind dafür, dass Deutschland Muslimen jede Zuwanderung verbieten sollte, oder dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre. Die Hälfte stimmt der Aussage „Der Islam passt in die deutsche Gesellschaft“ nicht oder eher nicht zu. Das erklärt die Diskriminierung, die Muslime auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt erleben. All das wird sich erst dann ändern, wenn Muslime in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens sichtbar werden.

Menschen mit Migrationsgeschichte hören häufig den Satz „Wo kommst Du her?“, selbst jene, die in Deutschland geboren sind. Ist das Rassismus? Oder kommt es nicht vielmehr auf das Motiv des Fragenden an?

Die Frage selbst ist nicht rassistisch, sondern das Klima, in dem die Frage gestellt ist. Außerdem: Woher genau soll man denn das Motiv kennen? Es gab Zeiten in meinem Leben, da hat mich das überhaupt nicht angefochten, im Gegenteil: Wenn ich auf Englisch angesprochen worden bin, habe ich auf gutem Englisch geantwortet – und war stolz darauf. Aber wenn Sie permanent hören und lesen, dass Sie nicht dazugehören, dass sie sich aus Deutschland verpissen sollen in ihre Heimat – meine Inboxen sind voll mit solchen Nachrichten – , dann finden Sie eine solche Frage nicht mehr so cool.

Glauben Sie, das ändert sich bald?

Ja. Schon jetzt gibt es Städte in Deutschland, in denen jedes zweite Kind eine Einwanderungsgeschichte hat. In manchen Städten wird es bald mehr Menschen mit Migrationsgeschichte als ohne geben. Das wird wiederum dazu führen, dass Migrant:innen in der Öffentlichkeit sichtbarer werden. Ich bin zuversichtlich, dass wir dann nicht mehr so sehr darüber sprechen, woher jemand kommt, sondern uns angesichts der demografischen Entwicklung vor allem die Frage interessiert, wie wir dieses Land zukunftsfähig gestalten.

Das Buch von Sawsan Chebli: „Laut“.
Laut. © Goldmann/dpa

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