1. Startseite
  2. Politik

Guatemala: Die Generation der Gestohlenen

Erstellt:

Von: Moritz Osswald

Kommentare

Guatemala-Stadt war einst Dreh- und Angelpunkt für viele illegale Adoptionen.
Guatemala-Stadt war einst Dreh- und Angelpunkt für viele illegale Adoptionen. © Mariam Guerrero

Unzählige Kinder wurden während des Bürgerkriegs in Guatemala zur Adoption freigeben - ohne die Erlaubnis ihrer Eltern. Betroffene versuchen nun, ihre Familien wieder zu finden

Als Ignacio gerade zwei Stunden alt war, lief seine Mutter zum Fluss unweit des Dorfes, setzte ihn dort aus – und ging. Niemand durfte von dem Kind erfahren. Die Schwangerschaft war das Produkt einer Vergewaltigung. Ignacio rutscht auf dem kleinen Plastikhocker etwas vor, zerrt und drückt an seinen Händen und Fingern. Seine Augen werden erst rötlich, dann wässrig, er lacht etwas, rückt seine Brille zurecht. Seine Geschichte ist eine von unzähligen. Während des blutigen Bürgerkriegs in Guatemala (1960-1996) entstand ein Handelsnetzwerk aus korrupten Anwält:innen, Notaren, Politikern und privaten Vermittlungsagenturen. Sie verkauften Babys und Kleinkinder an Adoptiveltern reicher Industrienationen als wären es Hundewelpen. Die Generation der Gestohlenen ist jetzt erwachsen. Und sie wollen eine Antwort auf die Frage: Wer sind meine richtigen Eltern?

„Ich bin nicht sauer auf meine Mutter“, sagt Ignacio, „sie hatte keine Wahl, so wie viele Mütter damals.“ Ignacio kommt als eine Mischung aus Punk, Soziologie-Student und freundlichem Öko daher. Unter dem dunkelgrünen Schal trägt er ein fleckiges, schwarzes Anti G7-Shirt. Der französische Akzent seines Spanisch ist nicht zu überhören – denn Ignacio wurde nach Québec gebracht, als er ungefähr drei Jahre alt war. Nachdem seine Mutter ihn am Fluss zurückließ, fanden ihn Landarbeiter und brachten ihn in ein Krankenhaus. Die Dorfgemeinschaft, aus der Ignacio stammt, wollte ihn aufnehmen – „doch der Staat mit seiner Allmacht sträubte sich dagegen.“ Stattdessen verschwand Ignacio. Er wurde in ein staatliches Waisenhaus in die Hauptstadt gebracht.

„Ich suche meine Familie“: Ignacio Tovar hat seine Mutter inzwischen gefunden, dennoch arbeitet er mit seiner Initiative weiter daran, Eltern und Kinder wieder zu vereinen.
„Ich suche meine Familie“: Ignacio Tovar hat seine Mutter inzwischen gefunden, dennoch arbeitet er mit seiner Initiative weiter daran, Eltern und Kinder wieder zu vereinen. © Mariam Guerrero

Dort passierte, was seit den 80ern in Guatemala häufig passierte: Geld floss, Papiere wurden vorbereitet; dann verschiffte man den Dreijährigen nach Kanada. Für Jahrzehnte war Guatemala das Paradies für unkomplizierte Adoptionen. In den meisten Fällen wussten die Adoptiveltern nicht, dass sie ein kriminelles Netzwerk aus Menschenhändler:innen unterstützen. Ihnen wurde erzählt, sie würden Kindern aus armen Familien die Chance auf ein besseres Leben ermöglichen. Kritische Nachfragen waren selten. In den 80ern und 90ern waren volle Hotels in der Hauptstadt mit Pärchen aus den USA, Kanada und Europa ein gängiges Bild. Sie flogen nach Guatemala, zahlten, und kehrten nach wenigen Wochen mit einem Baby zurück. Oder sie schickten Dokumente, einen Umschlag voll Geld und ließen sich ein Kind einfliegen – wie das Ehepaar Haas aus Unterfranken.

Illegale Adoptionen aus Guatemala: Auch in Deutschland gibt es Fälle

Carlos Haas hat einen Doktortitel und den Lehrstuhl für Neueste Geschichte an der LMU München inne. Geboren wurde er jedoch nicht in Bayern, sondern in Huehuetenango, im Nordwesten Guatemalas. Die Region ist bekannt für die unzähligen Massaker, die das Militär dort verübte. Als vier Monate altes Baby kam er 1985 in Frankfurt an. Seine Adoptiveltern konnten keine Kinder bekommen, wollten daher eins adoptieren – über eine Bekannte stellten sie den Kontakt zur guatemaltekischen Anwältin Rosa Elena Calderón her.

Als er den Namen hört, nickt der Psychologe Marco Antonio Garavito, fast so, als hätte er es erwartet. Sie sei damals in viele Fälle illegaler Adoption verwickelt, sagt er. „Maco“, wie der 71-Jährige von jedem nur genannt wird, schlurft gemächlich in Trainingskluft umher. Ein sanfter Händedruck, dann setzt sich der Mann mit kleinem Schnauzbart. Garavito könnte vor einem demotivierten Fußballteam auf Knopfdruck eine Rede halten. Er strahlt Ruhe und Geborgenheit aus. Dass die Adoptionen illegal und mit viel krimineller Energie vonstattengingen, das wusste Familie Haas allerdings nicht. Ihnen verkaufte ein Netzwerk von Menschenhändlern die Idee, sie würden etwas Gutes tun. „Es gibt noch mehr Fälle in Deutschland“, sagt Garavito, der die Liga Guatemalteca de Higiene Mental betreibt. Das Problem: Es fehlt eine organisierte Struktur, etwa ein Suchkollektiv, wie Ignacio es mit Fokus auf Québec aufgebaut hat.

Psychologe Marco Garavito begleitet viele emotionale Familientreffen.
Psychologe Marco Garavito begleitet viele emotionale Familientreffen. © Mariam Guerrero

Nachdem man 1996 den Frieden auf Papier versiegelte, widmete sich Garavito den Wunden des Krieges. Seine Organisation betreut Fälle wie den von Carlos Haas. Sie begleiten Betroffene bei Wiederbegegnungen. Psychische Belastungen sollen so frühzeitig verhindert werden: „Du kannst nicht einfach irgendwo hinfahren, klopfen und sagen: Hallo, ich bin dein Sohn.“ Zuvor kämpfte er über ein Jahrzehnt in den Bergen für eine Guerilla-Fraktion. Bis heute führte der Psychologe mit seiner „Liga“ 529 durch den Staatsterror zerrüttete Familien wieder zusammen. Die meisten Kinder brachte man nach Kanada, Frankreich und Belgien.

An Garavitos Wand hängen emotionale Fotos von Wiederbegegnungen zersplitterter Familien. Er schweigt für einen Moment. „Ich werde das solange machen, bis ich sterbe“, schließt er und begleitet nach draußen.

Als Ignacio die Tür zu seinem Büro aufschließt, entschuldigt er sich mit einem kurzen Lachen: „Wie ich bereits sagte, es ist wirklich klein.“ Es ist ein enger, länglich geschnittener Raum mit ein paar Plastikhockern und einem schwarzen Tisch. Druckerpapier liegt ungeöffnet in einem kleinen Holzregal. Vor einigen Wochen habe er sich hier eingerichtet, sein Kollektiv „Estamos Aquí“ (Wir sind hier) ist erst knapp über ein Jahr alt, nächste Woche komme dann der Drucker. Bücher, Sticker, Poster und einzelne Dokumente liegen herum.

Der Raum sieht ungefähr so aus, wie man sich die Zentrale eines Graswurzelaktivisten vorstellen würde. Drei Fälle hätten er und seine Mitstreiter:innen bereits aufklären können. Finanzielle Mittel: Fehlanzeige. Verraten kann Ignacio den genauen Standort nicht – seine Arbeit ist gefährlich. Der Staat täte am liebsten so, als hätte es nie einen Krieg gegeben, als wäre die indigene Bevölkerung nie massakriert worden. Kolleg:innen eines anderen Kollektivs hätten bereits Drohungen erhalten.

Guatemala: Illegal adoptierte Kinder auf der Suche nach ihren Eltern

Seine Geschichte ist kompliziert, schwer zu ertragen. Es ist ein Puzzle, das er selbst noch nicht ganz enträtseln konnte. Das Leben mit seinen Adoptiveltern war eine Odyssee. Ignacio erlitt viel Missbrauch. Es ist das einzige Thema, über das der selbstbewusste Guatemalteke nicht gerne redet. Der kanadische Staat musste eingreifen, brachte ihn zu anderen Adoptivfamilien, bis er schließlich mit der Volljährigkeit sein eigenes Leben begann. Mit schnellen, manchmal hektischen Bewegungen nestelt Ignacio an den Plakaten herum, die er heute Nacht mit Freunden im Zentrum der Hauptstadt aufkleben will. Er schaut auf, sein Blick bleibt an einer Liste von Dokumenten kleben, die an der Wand hängt. Sie zeigen verschiedene Namen.

„Ich hatte mehrere Namen, in Kanada und dann hier in Guatemala“, so der 37-Jährige, der erst Kevin, dann Luciano hieß, bevor er zu Ignacio wurde. Die Ungewissheit, sie drückt, zieht und quetscht in der Seele. Anwält:innen, Notar:innen und Behörden fälschten häufig Geburtsurkunden, um zu vermeiden, dass die verkauften Kinder die Wahrheit herausfinden. Adoptierte müssen häufig damit leben, dass sie eigentlich anders heißen, dass ihr Geburtsdatum nicht stimmt, oder ihr Geburtsort – ein zehrender Zickzack-Tanz der Identität.

200 000 Tote, über eine Million Vertriebene und Abertausende zersplitterte Familien prägen die guatemaltekische Gesellschaft bis heute. Losgetreten hat den bewaffneten Konflikt eine Weltmacht, die in Lateinamerika schon für einige Putsche verantwortlich war: die USA. Guatemala war eine der ersten „Bananenrepubliken“. Dieser koloniale Begriff fand nicht umsonst Eingang in die Geschichtsbücher. Die United Fruit Company (heute Chiquita) installierte sich als wirtschaftliche Macht in Guatemala und ganz Zentralamerika. Häfen, Bahntrassen, Farmland: United Fruit eignete sich alles an. Die kleine zentralamerikanische Nation befand sich im Würgegriff dieses Privatunternehmens. 1951 siegte dann Jacobo Árbenz in demokratischen Wahlen. Er wollte Agrarreformen, er wollte Enteignung – denn die United Fruit nutzte den Großteil des geraubten Landes nicht einmal. Es vegetierte als pure Spekulationsmasse dahin. Die USA lehnten dieses Vorhaben ab.

Plakate werden in Nacht- und Nebelaktionen verteilt.
Plakate werden in Nacht- und Nebelaktionen verteilt. © Mariam Guerrero

Die CIA war involviert, man setzte Präsident Árbenz ab. Die inneren Spannungen in Guatemala wuchsen und wuchsen. Schließlich eskalierte der Konflikt in einen Bürgerkrieg, dann in einen Völkermord. Die Regierung massakrierte zahlreiche Menschen indigener Herkunft – meist unter dem Vorwand, sie würden linke Guerillagruppen unterstützten. Militärs töteten Kleinkinder mit Macheten, vergewaltigten Frauen. Die USA unterstützte im Eifer gegen den Kommunismus damals die Politik des Staates.

Ignacio und seine Freunde sitzen auf einem kleinen Steinkreis neben dem Nationalpalast im Zentrum, über ihnen die Landesflagge, in der Hand einen Maiskolben. Die überdimensionierte Tupperdose mit weißem Leim steht bereit, die eingerollten Poster blitzen aus der schwarzen Umhängetasche heraus. Die kleine Gruppe macht sich auf den Weg. Verschiedene Wände in Straßen des Zentrums werden jetzt beklebt. Freundin Paula reißt den Pinsel mit gezielten Bewegungen aus der Dose zur Wand, weiße Leimtropfen spritzen lautlos durch die Nacht. Sirenen heulen in der Ferne auf. Ein kurzer Blick, doch für Angst ist keine Zeit. Geredet wird nicht. In weniger als fünf Minuten hängen über ein Dutzend Poster unweit einer Polizeistation.

Nervös? „Nein, ich mache diese nächtlichen Aktionen schon eine Weile“, lacht Ignacio und stupst mit dem Zeigefinger seine Brille nach oben. Später kramt er sein Handy aus der Tasche und sucht energisch nach einem Video, das er zeigen möchte. Es ist die Wiederbegegnung, das erste Mal, dass er seine Mutter sieht. Man sieht Ignacio langsame, schwere Schritte einen steingepflasterten Weg hinauflaufen. Psychologe Maco hält ihn und läuft mit ihm. Dann die Umarmung, lange und wortlos. Sie kennen sich weniger als ein halbes Jahr. Über vier Jahre dauerte die Suche.

Der 37-Jährige erzählt, wie er kürzlich zum ersten Mal andere Bewohner:innen seiner Dorfgemeinschaft traf. Geweint hätten die Alten, nie hätten sie gedacht, den kleinen Ignacio je wiederzusehen. Der Fluss, an dem ihn 1986 seine Mutter aussetzte, haben sie nach ihm benannt. Wieder werden seine Augen rötlich, dann wässrig, bis dann sein Lachen erneut einsetzt. Bald möchte er dorthin, den Fluss kennenlernen.

Auch interessant

Kommentare