Flüchtlingslager in Griechenland: „Man versucht nicht einmal, die Katastrophe zu verhindern“
Der grüne Europa-Abgeordnete Erik Marquardt spricht im Interview über die Situation der Menschen in den griechischen Flüchtlingslagern und Ideen, wie Deutschland helfen könnte.
- Die Situation in den Flüchtlingslagern in Griechenland wendet sich nicht zum Besseren.
- Der Ausbruch des neuartigen Coronavirus erschwert die Umstände.
- Der Europaabgeordnete Erik Marquardt spricht im Interview über die Situation vor Ort.
Erik Marquardt, 32, Europaabgeordneter der Grünen, hält sich seit mehr als einem Monat auf Lesbos auf und beobachtet die Situation in und um Europas größtes Flüchtlingslager. Er hat mit vielen Prominenten die Initiative #leavenoonebehind gestartet, die dazu aufruft, auch Geflüchtete an den europäischen Außengrenzen und Obdachlose vor dem Coronavirus zu schützen.
Herr Marquardt, auf dem griechischen Festland haben sich die ersten Geflüchteten mit dem Coronavirus angesteckt. Wie ist die Lage auf Lesbos, wo mehr als 20 000 Menschen im Camp Moria in Zelten leben?
Auf Lesbos sind mittlerweile fünf oder sechs Fälle bekannt, allerdings keiner davon in Moria. Auch hier gibt es Kontaktbeschränkungen, und die Einheimischen dürfen nicht ohne konkreten Grund ihre Häuser verlassen. Die Geflüchteten wiederum dürfen nicht in die Städte kommen, und derzeit ist es für sie sogar verboten, den Lidl-Markt in der Nähe des Camps zu betreten. Trotzdem ist es aus meiner Sicht nur eine Frage der Zeit, bis das Virus dort ankommt.
Griechenland: Hygienevorschriften und Ausgangsbeschränkungen
Gibt es für diesen Fall irgendwelche Vorkehrungen?
Überall in Moria hängen Zettel mit Informationen über Ausgangsbeschränkungen und Hygienevorschriften. Gleichzeitig ist es für die Menschen dort natürlich unmöglich, sie einzuhalten. Als ich das letzte Mal vor Ort war, war mal wieder das Wasser ausgefallen. Man kann sich also nicht einmal ordentlich die Hände waschen – geschweige denn Abstand zu den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern halten. Dreimal am Tag sammeln sich riesige Menschentrauben an der Essensausgabe. Dabei wäre es sicher kein Hexenwerk, die anders zu organisieren. Aber nicht einmal das wird getan. Ansonsten haben die Behörden einen einzigen Container vor den Eingang des Camps gestellt, der als Teststation fungieren soll. Jetzt heißt es, man sei auf einen Ausbruch vorbereitet. Es ist alles so hilflos. Die vollkommene Realitätsverweigerung.

Wie geht es jetzt im schlimmsten Fall weiter?
Wenn das Virus einmal im Camp ankommt, wird es sich rasend schnell und vollkommen ungehindert ausbreiten. Und dann wird man sehen, wer alles zur Risikogruppe gehört. Es leben zwar nicht viele alte Menschen im Camp, aber Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen sind überzeugt, dass man schon alleine durch eine längere Verweildauer im Camp fast automatisch zur Risikogruppe gehört. Weil hier viele andere Krankheiten herumgehen, und weil die medizinische Versorgung so schlecht ist. Aber aus meiner Sicht ist das politische Worst-Case-Szenario längst da.
Wie meinen Sie das?
Wir tun gerade alles, um zu verhindern, dass sich das Virus ausbreitet und Menschenleben nicht gefährdet werden. Aber dann gibt es Flüchtlingslager in Europa – nicht nur auf Lesbos –, in denen das einfach nicht gilt. In denen man die Menschen nicht schützt, obwohl man die Möglichkeiten dafür hätte. In Deutschland gibt es Zehntausende freie Plätze in Erstaufnahmeeinrichtungen, man könnte leere Kreuzfahrtschiffe mieten. Aber der politische Wille fehlt. Die Menschen sollen selbst in Coronazeiten weiter hier leiden – um andere abzuschrecken. Man versucht nicht einmal, die Katastrophe noch zu verhindern.
Flüchtlingslager in Griechenland: Die Mitgliedsstaaten als Problem
Passiert denn hinter den Kulissen der EU-Politik gar nichts?
Der Innenausschuss des Europaparlaments hat gefordert, die Inseln zu evakuieren. Und vor einigen Tagen habe ich länger mit Ursula von der Leyen telefoniert. Sie und die Migrationskommissarin Ylva Johansson sind bei dem Thema sehr engagiert. Auch andere Abgeordnete wie Katarina Barley arbeiten intensiv an Lösungen.
Das Problem sind die Mitgliedsstaaten. Die Regierungen haben sich in Populismus und Ressentiments verrannt und denken nur an die nächsten Wahlergebnisse. Dabei wäre es auch im Eigeninteresse, jetzt Handlungsfähigkeit zu beweisen.
Griechenland: Tourismus ist eingebrochen
Inwiefern?
Es ist toll, dass Deutschland 200.000 Touristen zurückholen kann, dass 40.000 Erntehelfer aus Rumänien kommen können. Das zeigt, dass wir Möglichkeiten haben, auch einige Zehntausend Menschen aus den überfüllten Lagern evakuieren zu können. Auf Lesbos und in ganz Griechenland ist der Tourismus völlig eingebrochen, unzählige Hotels stehen leer. Warum mietet die Regierung nicht einige von ihnen an und bringt Geflüchtete dort unter? So würde man das Corona-Risiko eindämmen und zugleich Jobs von Hotelangestellten sichern. Stattdessen schüren griechische Minister weiter Vorurteile gegen Geflüchtete, weil in Moria vor allem Afghanen leben – angeblich keine „richtigen Flüchtlinge“, obwohl über 70 Prozent von ihnen einen Schutzstatus bekommen. Und was bringt es jetzt überhaupt, die Menschen in Kategorien einzuteilen? Das Virus schert sich nicht um die Nationalität.
Interview: Alicia Lindhoff
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