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Was geschah in Gewahrsamszelle 5?

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Die Verwahrzelle, in der der Asylbewerber Oury Jalloh aus Sierra Leone verbrannte.
Die Verwahrzelle, in der der Asylbewerber Oury Jalloh aus Sierra Leone verbrannte. © ddp

Oury Jalloh verbrannte vor sechs Jahren auf einer Polizeistation in Dessau, an Händen und Füßen auf dem Boden angekettet, am helllichten Tag, bei lebendigem Leibe. Ein Gericht versucht nun erneut, den skandalösen Fall aufzuklären.

Von Renate Oschlies

Oury Jalloh verbrannte vor sechs Jahren auf einer Polizeistation in Dessau, an Händen und Füßen auf dem Boden angekettet, am helllichten Tag, bei lebendigem Leibe. Ein Gericht versucht nun erneut, den skandalösen Fall aufzuklären.

Bis sich der Name der Stadt Dessau zuallererst wieder mit dem Wörlitzer Gartenreich verbindet, mit Schlössern und Bauhaus-Kultur, wird noch viel Zeit vergehen. Nichts in der Stadt an der Elbe ist mehr, wie es war, seit am 7. Januar 2005 in der gefliesten Gewahrsamszelle Nummer 5 des örtlichen Polizeireviers der schwarze Asylbewerber Oury Jalloh, an Händen und Füßen auf dem Boden angekettet, am helllichten Tag bei lebendigem Leibe verbrannte. Und niemand ihn rettete.

Dieses Ereignis war schon ungeheuerlich genug, weltweit erregte die Nachricht Aufsehen. Doch wie die Polizei, die Justiz, wie die Stadt mit dem furchtbaren Vorfall umgingen, beschädigt Dessaus Ruf bis heute. Die Polizei versuchte, die Umstände zu vertuschen. Die Stadt ignorierte den Tod, der damalige Bürgermeister ging nicht einmal zur Trauerfeier, der damalige Innenminister von Sachsen-Anhalt lehnte es ab, den Tatort, die Todeszelle, zu besichtigen. Mehr als zwei Jahre vergingen, bis gegen zwei am Unglückstag verantwortliche Polizisten ein Prozess eröffnet wurde, in dem sie der Mitschuld am Tod Jallohs angeklagt waren. Fast noch einmal so lange dauerte es, bis das Landgericht Dessau-Roßlau die beiden Beamten im Dezember 2009 freisprach. Und nun wird der Fall erneut verhandelt, diesmal vor dem Landgericht in Magdeburg.

Beim ersten Prozess hatte der Vorsitzender Richter Manfred Steinhoff letztlich kapituliert: "Das hat mit Rechtsstaat nichts mehr zu tun", rief er seinerzeit in den Gerichtssaal. Die befragten Polizisten hätten gelogen, verschwiegen und vertuscht und so den Rechtsstaat ausgehebelt. Deshalb sei eine Verurteilung unmöglich gewesen, versuchte er die aufgebrachten Zuschauer zu beruhigen. Besonders die Schwarzafrikaner aus Dessau, die den Prozess verfolgten und zunehmend aggressiver auf die Aussagen der Polizisten reagiert hatten, waren erbost. Bei der Bekanntgabe des Freispruchs schrien sie "Ihr Lügner, Ihr Mörder". Steinhoffs Ansprache sollte ihre Wut kappen. Seine schriftliche Ausführung des Urteils knapp drei Monate darauf sah freilich ganz anders aus. Da attestierte Richter Steinhoff den Angeklagten, sich "pflichtgemäß" verhalten zu haben. Zweifel an dem geschildertem Geschehen am Unglückstag kamen nicht mehr vor. Was den Richter veranlasst hat, das schriftliche Urteil so abzuschwächen, darüber spricht er nicht.

Entsetzte Prozessbeobachter

Vor einem Jahr, genau am fünften Todestag des Asylbewerbers Oury Jalloh aus Sierra Leone, hob der Bundesgerichtshof in Karlsruhe den Dessauer Freispruch gegen den Polizei-Dienstgruppenleiter Andreas S. wieder auf. Angehörige Jallohs und Freunde waren erleichtert. Die Vorsitzende Richterin Ingeborg Tepperwien ordnete an, den Fall komplett neu zu verhandeln, die Urteilsbegründung sei lückenhaft, die Beweisführung nicht nachvollziehbar und das Verhalten des Polizisten S. alles andere als pflichtgemäß. Deshalb steht Andreas S. ab heute wieder vor Gericht.

Die Schwarzafrikaner aus Dessau werden wieder im Saal sitzen. Unter ihnen Mouctar Bah, ein Freund Oury Jallohs. Er hat Spenden gesammelt, um auch zu diesem Prozess die Mutter und den Bruder des Toten nach Deutschland zu holen. Er war es, der Jallohs Eltern damals anrief, um ihnen zu sagen: Euer Sohn ist tot, verbrannt in einer Polizeizelle. "Wie ist so etwas möglich, mitten in Deutschland?", fragte die Mutter. Sie konnte es nicht fassen. Mouctar Bah aus Guinea betrieb in Dessau ein Tele-Café, einen Telefonladen, in dem die Afrikaner nach Hause telefonierten, sich trafen, aßen, schwatzten. Er sorgte vor sechs Jahren dafür, dass der Fall Oury Jalloh öffentlich wurde, nachdem die Polizei zunächst den "Selbstmord eines Asylbewerbers" in einer Haftzelle meldete. Mit einigen Mitstreitern organisierte er Proteste, forderte die vollständige Aufklärung des Falls. Anti-Rassismus-Gruppen in ganz Deutschland schlossen sich an, internationale Menschenrechtsinitiativen sandten Beobachter zu dem Prozess nach Dessau - und waren bestürzt darüber, was sie dort erlebten.

Mouctar Bahs Engagement schien in Dessau nicht willkommen. Man nahm ihm den Laden weg, angeblich, weil er Dealer in dem Tele-Café dulde. Die Vorwürfe konnten zwar nie erhärtet werden, dennoch, ein Deutscher übernahm den Laden. Anfangs arbeitete Bah noch dort mit. Als in der Zeitung stand, dass die Internationale Liga für Menschenrechte ihm für seine Zivilcourage die Carl-von-Ossietzky-Medaille verleihe, gab es gleich wieder eine Razzia im Laden. Man beschuldigte Bah, mit Diebesgut zu handeln. Auch dafür gab es keine Beweise, wie die Staatsanwaltschaft hinterher einräumen musste. Eine Reporterin des Deutschlandfunks recherchierte, dass die angeblich gesuchten Kleidungsstücke einem Modehaus gar nicht abhanden gekommen waren. "Die wollten mich hier eben loswerden", sagt Mouctar Bah.

Mouctar Bah spricht fast akzentfrei deutsch, er ist klug genug, zu wissen, dass auch dieser neue Prozess ausgehen kann wie der erste, wenn alle Polizisten weiter mauern. "Aber es ist eine Chance", sagt er, "vielleicht doch noch herauszubekommen, was am 7. Januar 2005 auf dem Polizeirevier wirklich geschah." Zumindest würden nun all die Ungereimtheiten noch einmal hinterfragt. Und davon gibt es eine Menge. Klar ist nur, dass Oury Jalloh an seinem Todestag, einem trüb-milden Freitag, kurz nach acht Uhr morgens von einer Polizeistreife mit aufs Revier genommen wurde, um seine Ausweispapiere zu überprüfen. Drei Frauen von der Stadtreinigung hatten sich von dem jungen Mann belästigt gefühlt, weil der sie immer wieder bat, ihm ein Handy zu leihen. Seines würde nicht funktionieren. Genervt wählte eine der Frauen den Polizeiruf 110.

Jalloh war an diesem Morgen aus einer Disco gekommen und stark alkoholisiert. Als die Beamten eintrafen, soll die Auseinandersetzung schon beigelegt gewesen sein. Wie es heißt, hat sich Oury Jalloh, durch Drogendelikte der Polizei bekannt, gegen die Festnahme heftig gewehrt. Auf dem Revier entnahm ein Arzt ihm eine Blutprobe und bestätigte, dass Jalloh, der fast drei Promille Alkohol und Kokainspuren im Blut hatte, haftfähig sei. Weil er sich noch immer gewehrt haben soll, wurde er, nachdem man seine Kleidung durchsucht und seine Taschen geleert hatte, in eine Arrestzelle im Keller gebracht und dort auf dem Rücken liegend angekettet. Auf diese Weise ruhiggestellt, hätte der Inhaftierte an Erbrochenem ersticken können.

Gegen 12 Uhr brach - unter bis heute ungeklärten Umständen - ein Feuer aus. Der Feuermelder im Dienstzimmer im ersten Stock gab wiederholt akustischen Alarm, Dienstgruppenleiter Andreas S. drückte ihn mehrmals weg, zuvor hatte er den Ton der Gegensprechanlage in der Zelle immer wieder leise gedreht, wie eine Kollegin zunächst aussagte. Falls Oury Jalloh da schon um sein Leben schrie, man hätte ihn nicht gehört.

Schlüssel für die Fesseln im Büro vergessen

Erst als auch der Rauchmelder im Lüftungsschacht Alarm gab, machte sich Andreas S. auf Druck seiner Kollegin auf den Weg in den Keller. Wertvolle Zeit verstrich, weil er einen Beamten mitnehmen wollte, der noch ein Telefonat beenden wollte, dann hatte er die Schlüssel für die Fesseln im Büro vergessen. Als sie schließlich im Keller eintrafen, soll eine Rettung nicht mehr möglich gewesen sein.

Das Gericht in Dessau ging davon aus, dass Jalloh das Feuer selbst entfacht habe. Bei der Durchsuchung der Kleidung soll ein Feuerzeug übersehen worden sein. Nach dieser Theorie muss der Afrikaner im volltrunkenen Zustand die schwer entflammbare Matratze selbst entzündet haben, an Händen und Füßen gefesselt, wie er war. Brandversuche ergaben, dass nur die Füllung der Matratze brennbar war, er also auch deren Nähte geöffnet haben musste.

Für Jallohs Freunde und die Rechtsanwälte seiner Eltern, die als Nebenkläger den Prozess verfolgen, gab es zu viele Ungereimtheiten: Wie kam ein Feuerzeug in die Zelle, dessen verkohlte Reste erst Tage nach der Tatortsicherung gefunden wurden? Woher stammten ein frischer Nasenbeinbruch und Ohrverletzungen des Opfers, die erst bei einer zweiten, von der Nebenklage veranlassten Obduktion entdeckt wurden? Was waren das für Flüssigkeitslachen, die sich kurz vor Ausbruch des Feuers in der Zelle befunden haben, wie Polizisten aussagten? Urin, so ihre Feststellung, sei es nicht gewesen. Welche Personen betraten die Zelle etwa eine halbe Stunde vor Ausbruch des Feuers, ohne dies im Gewahrsamsbuch zu dokumentieren? Die Polizistin in ihrem Dienstzimmer hatte die Stimmen über den Lautsprecher nicht identifizieren können, Wieso zeichnete das am Tatort von Kriminalbeamten gedrehte Video nur die ersten vier Minuten Bilder im Kellerflur auf? Von jenem Moment an, da sie die Zelle betraten, lief nur die Tonspur.

All diese Ungereimheiten des ersten Prozesses trugen in Dessau nicht eben dazu bei, das Verhältnis zwischen Ausländern und der Polizei und anderen Behörden zu verbessern. Zu groß ist das über Jahre gewachsene Misstrauen. Die Polizei geriet sogar so weit in die öffentliche Kritik, dass der Landtag von Sachsen-Anhalt 2007 einen Untersuchungsausschuss einsetzte, um Vorwürfen nachzugehen, Dessauer Polizisten handelten ausländerfeindlich oder vereitelten die Aufklärung rechtsextremer Straftaten. Der sozialdemokratische Innenminister Holger Hövelmann ließ 2009 eine seinem Ministerium angegliederte Polizeibeschwerdestelle einrichten, um Fehlleistungen auf die Spur zu kommen. Kritiker bemängeln allerdings, diese sei als Institution des Polizei-Dienstherrn nicht neutral, nicht unabhängig. Von einzelnen Polizisten ist zu hören, sie würden sich mit Beschwerden über internes Fehlverhalten jedenfalls nicht dorthin wenden. Zu groß sei die Gefahr, danach von Kollegen und Vorgesetzten gemobbt zu werden.

Auch die Beamtin, die im Jalloh-Prozess anfangs ihre Kollegen schwer belastete, wurde offenbar so massiv unter Druck gesetzt, dass sie Aussagen später zurückzog. Sie wurde versetzt und begab sich in psychiatrische Behandlung.

Einer, der die Situation in der Stadt und der Region ausgezeichnet kennt, ist Marco Steckel. Der Sozialpädagoge leitet in Dessau seit vielen Jahren die Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt. Er und einige seiner Mitstreiter verfolgten alle 59 Prozesstage in Dessau und dokumentierten den Verlauf akribisch im Internet. "Was da ablief, ist unglaublich", fasst er seine Eindrücke zusammen. "Wie der Korpsgeist der Polizisten funktionierte, wie vertuscht und abgelenkt wurde, hat alle schlimmen Erwartungen übertroffen", sagt er.

"Der einzige, den die Polizei geopfert hat, ist eine Führungskraft aus Halle", sagt Steckel. Geopfert ist wohl das richtige Wort. Heinz-Günther Buß musste seinen Stuhl räumen, nachdem er einen Kollegen angezeigt hatte, der nach dem Feuertod in der Dessauer Polizeizelle bei einer Dienstberatung geäußert hatte: "Schwarze brennen eben länger." Buß wurde versetzt - ausgerechnet nach Dessau. Von den Kollegen geschnitten, wurde er bald krank und ging vorfristig in den Ruhestand. Er zog weg aus Sachsen-Anhalt, jenem Bundesland, "in dem alles möglich ist", wie er sagte.

Wunsch nach einem weisen Urteil

Dass der jetzige Oberbürgermeister von Dessau bemüht ist, die Stadt für die Belange und die Rechte der hier lebenden Ausländer zu sensibilisieren, erkennt Steckel wohl an. Allein im Stadtrat lege man ihm immer wieder Steine in den Weg. So verhinderten im vergangenen Jahr ausgerechnet die Linken die Einsetzung eines Integrationsbeirates. Mit nicht einmal drei Prozent Ausländeranteil sei es nicht vertretbar, dafür Gelder einzusetzen, lautet ihre Begründung.

"Auch unsere Bundespolitiker sind ja nicht gerade das beste Vorbild", findet Stefan Krabbes. Er ist 23 Jahre alt und engagiert sich in Dessau bei den Grünen. "Wenn ich höre, dass Frau Merkel erklärt, Multikulti sei gescheitert und Herr Seehofer findet, wir brauchen keine Ausländer, sehe ich hier: Das treibt die perspektivlosen Jugendlichen geradewegs in die rechte Szene."

Was erwartet man in Dessau von dem neuen Prozess in Magdeburg, der den Tod Oury Jallohs aufklären soll? Polizeipräsident Karl-Heinz Willberg nennt zunächst noch einmal die mündliche Urteilsbegründung von Richter Steinhoff "unwürdig für ein Gericht." Latent sei die Polizei damit unter Generalverdacht gestellt worden. "Wenn auch das Gericht in Magdeburg die Schuld nicht konkret machen kann", müsse Dessau mit einem Freispruch leben lernen, sagt er. Und Oberbürgermeister Klemens Koschig wünscht sich ein "weises Urteil" der Richter, mit dem alle leben könnten. Er denkt, dass Dessau dann eines Tages wieder an Traditionen wie Weltoffenheit und Toleranz anknüpfen könnte.

An den zunächst 21 angesetzten Verhandlungstagen in Magdeburg werden die Bürger seiner Stadt und auch internationale Beobachter verfolgen, wie viel Offenheit in Dessau jetzt schon möglich ist.

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