Nie illegale Bauten zugelassen: Wie Erzins Bürgermeister beim Erdbeben Tausende Leben rettete
Nach dem Erdbeben in der Türkei stellt sich vielen die Frage nach unsicheren Bauten. Die Stadt Erzin zeigt, was möglicherweise hätte verhindert werden können.
Erzin – Das Erdbeben in der Türkei und Syrien hat nach aktuellem Stand über 40.000 Leben gefordert, 35.418 alleine in der Türkei. Das berichtete die türkische Nachrichtenagentur Anadolu. Seit das Beben das Land erschüttert hat, häufen sich die Fragen: Was hätte verhindert werden können? Welche Rolle haben unsichere und dennoch genehmigte Bauten gespielt? Und welche Verantwortung trägt die AKP um Präsident Erdogan für die Folgen der Katastrophe? Ein Blick in die Stadt Erzin vermittelt eine Vorstellung davon, wie es hätte sein können.
Das Erdbeben in der Türkei und der Fall der Stadt Erzin
Die Provinz Hatay hat das Erdbeben in der Türkei schwer getroffen: Wie an so vielen Orten im Land fielen Gebäude in zahlreichen Städten wie Kartenhäuser in sich zusammen und begruben jeden unter sich, der es nicht schnell genug schaffte, das Haus zu verlassen. Erzin liegt inmitten der betroffenen Region, doch hat die Stadt nicht ein Todesopfer zu beklagen. Woran liegt das? Es ist offenbar auch das Resultat gewissenhafter Arbeit eines Bürgermeisters, der sich in Fragen der Bausicherheit nicht beirren ließ. Sein Name: Ökkeş Elmasoğlu.

Der 44-Jährige gehört der kemalistischen Oppositionspartei CHP in der 42.000 Einwohnerstadt im Norden Hatays an, seit 2019 regiert er hier. Für die Tatsache, dass Erzin deutlich weniger schwer getroffen wurde, als andere Städte, hat er eine ebenso einfache wie plausible Erklärung. Elmasoğlu sagt im türkischen Fernsehen: „Ich habe keine illegalen Bauten und Bautätigkeiten zugelassen. Manchmal hat man sich über mich geärgert und mich spöttisch gefragt, ob ich der einzige Anständige im Land sein wolle. Ich habe also ein reines Gewissen. Ich habe keine illegalen Bauten zugelassen.“
Elmasoğlu hat seine Arbeit in Fragen der Bausicherheit nach bestem Wissen und Gewissen erledigt und damit wohl zahllose Leben gerettet. In der Türkei macht ihn das inzwischen zur Symbolfigur.
Katastrophe in der Türkei: Hätten Erdbeben-Tote verhindert werden können? Elmasoğlu ist davon überzeugt
Es ist die große Frage nach der Katastrophe in der Türkei: Hätte die Zahl an Erdbeben-Toten verhindert werden können? Erzins Bürgermeister Ökkeş Elmasoğlu ist davon überzeugt. Gegenüber der Süddeutschen Zeitung wird er deutlich: „Die Bauaufsicht in der Türkei funktioniert nicht. Wenn vorschriftsmäßig gebaut wird, stürzt ein Haus nicht so schnell ein.“ Vor den Wahlen hat man in der Türkei Bauherren, die sich eigentlich strafbar gemacht haben, bisweilen Straffreiheit gewährt – mit katastrophalen Folgen. Nun wurden nach dem Beben einige Bauunternehmer verhaftet, andere mit Nähe zur AKP hingegen offenbar nicht.
Elmasoğlu glaubt, es sei dennoch zu einfach, nur den Bauherren die Schuld zu geben. In der SZ sagt er: „Die gesamte Verantwortung wird aber den Bauunternehmern und den Besitzern der Häuser selbst überlassen. Viel zu viele Neubauten werden genehmigt. Oft werden sie nach Bauende gar nicht vor Ort besichtigt, sondern nur anhand von Fotos abgenommen. Das ist also ein Glücksspiel, wie eine Lotterie. So kann man doch keine Baukontrolle machen.“ Es ist die deutliche Kritik an einer Politik, die für die Folgen des Erdbebens offenbar erhebliche Verantwortung trägt.
Erdbeben in der Türkei: Kritik an „Baufrieden“ und Zweckentfremdung der Erdbebensteuer
Seit dem Erdbeben in der Türkei wird die Kritik an der politischen Führung des Landes immer lauter. Mit einem „Baufrieden“ wurden in der Türkei offensichtlich auch fehlerhafte Bauten im Nachgang genehmigt. Im Jahr 2019 hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan eine Amnestie für fehlerhafte Bauwerke durchgesetzt. Damals erklärte er im Wahlkampf: „Wir haben mit dem ‚Baufrieden‘ die Probleme von 144.556 Bürgern in Kahramanmaras gelöst. In Hatay von 205.000 Bürgern.“ Es war eine sehr kurzsichtige Vorstellung von Problemlösung. Auch der Umgang der Regierung mit der Erdbebensteuer ist Gegenstand aktueller Debatten, denn sie kam offenbar überwiegend nicht dort an, wo sie sollte.
„Schwarzbauten gehören abgerissen“ – nicht amnestiert
Ökkeş Elmasoğlu erklärt in der SZ, auch die Tatsache, dass es in Erzin keine Hochhäuser und fast nur Einfamilienhäuser gäbe, habe die Stadt begünstigt. Er sagt, es gäbe „fast nur Einfamilienhäuser. Mehrfamilienhäuser und Apartmentblocks sind erst in den letzten zehn Jahren gebaut worden. Ich glaube, es liegt an der hohen Zahl einstöckiger Bauwerke, die die Alteingesessenen bevorzugen“. Zudem seien selbst einige Schwarzbauten aus der Zeit vor seinem Amtsantritt verschont geblieben.
Doch alldem zum Trotz: es wird deutlich, dass Erzin nicht einfach „Glück hatte“. Es geht um Verantwortlichkeit, Prävention und Bausicherheit. Elmasoğlu hat klare Vorstellungen, wie vorgegangen werden muss. Er sagt „Schwarzbauten gehören abgerissen. Wenn man zehn abreißt, baut keiner mehr fahrlässig. Alle Verantwortlichen müssen vor Gericht. Die Bauwirtschaft muss von der Einflussnahme der Politik befreit werden.“
Bezeichnend: Noch kurz vor dem Beben hatte die Regierung in der Türkei laut Erzins Bürgermeister über weitere Amnestien nachgedacht – das von Elmasoğlu erhoffte Umdenken scheint in weiter Ferne, doch der öffentliche Druck steigt. (ales)