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Ein Jahr Gabriel Boric in Chile: Die Fallen der Realpolitik

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Von: Klaus Ehringfeld

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Seit einem Tief im Januar steigen seine Umfragewerte wieder: Fans von Boric feiern ihr Idol.
Seit einem Tief im Januar steigen seine Umfragewerte wieder: Fans von Boric feiern ihr Idol. © afp

Chiles Präsident Gabriel Boric ist seit einem Jahr im Amt. Nach der anfänglichen Begeisterung dominieren in der öffentlichen Wahrnehmung nun seine Fehler.

Pünktlich zum ersten Jahrestag seiner Amtszeit machte das Parlament dem chilenischen Präsidenten ein unwillkommenes Geschenk. Die Abgeordnetenkammer in Valparaiso ließ vergangene Woche die Steuerreform von Gabriel Boric durchfallen, ein Herzensprojekt der neuen linken Regierung, die am 11. März vor einem Jahr unter großem Beifall im Land und gespannter Erwartung in aller Welt ihr Amt antrat. Mit den Zusatzeinnahmen in Höhe von zehn Milliarden Dollar wollte Boric seine wichtigen Projekte im Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich sowie den ökologischen Umbau finanzieren.

Die unerwartete Ablehnung, die der junge Linkspräsident verärgert quittierte, war der passende Abschluss eines sehr unruhigen und komplizierten ersten Amtsjahres für den Staatschef und seine umweltsensible und frauenbewegte Regierung. In den Turbulenzen gingen Errungenschaften wie die kostenlose öffentliche Gesundheitsversorgung für 5,3 Millionen Chileninnen und Chilenen, die Erhöhung des Mindestlohns und eine Stabilisierung der Wirtschaft fast unter.

Fehler und Rückschläge dominieren die öffentliche Wahrnehmung – allen voran die klare Ablehnung der neuen Verfassung im September. Bei dem Referendum stimmten 62 Prozent der Bevölkerung gegen das Projekt eines neuen Grundgesetzes, das Chile bei der Frage von Geschlechterparität und Umwelt- sowie Naturschutz auf eine weltweit einmalige Grundlage gestellt hätte. Auch hätte sie Elemente einer direkten Demokratie festgeschrieben, die der Entfremdung zwischen Regierten und Regierenden entgegenwirken sollte.

Die hohen Erwartungen an Gabriel Boric wurden durch wiederholte Fehler enttäuscht

In Teilen ist aber das ambitionierte und mutige Projekt des 37-Jährigen in seinem ersten von vier Regierungsjahren auch an geerbten Problemen und den Notwendigkeiten der Realpolitik gescheitert, so etwa bei dem Thema der Einwanderung, der Inflation und Zunahme der Kriminalität im Land.

Beim Thema Migration und Umgang mit den indigenen Mapuche musste Boric faktisch einen kompletten Richtungswechsel vornehmen. Erst vor wenigen Tagen verfügte er die Militarisierung der Nordgrenze zu Bolivien, über die jeden Tag bis zu 500 Migrantinnen und Migranten ohne Papiere ins Land kommen.

Letztlich ist der Anstieg der Kriminalität vor allem in der Hauptstadt Santiago und im Norden des südamerikanischen Landes ohne Beispiel für Chile. Das kleine südamerikanische Land war immer eine Ausnahme in Lateinamerika und galt als weitgehend sicher. Leider sind nach Aussagen auch von Anwälten und Anwältinnen in der Mehrzahl Zugewanderte für die Gewaltdelikte verantwortlich. Die Bevölkerung kreidet diese Verschlechterung der Sicherheitslage der Regierung an.

Die hohen Erwartungen an die neue Regierung wurden auch ein Stück weit durch die wiederholten Fehler und mangelnde politische Erfahrung ihrer 14 Ministerinnen und zehn Minister enttäuscht. Viele von ihnen gehörten zu Boric’ Mitstreiter:innen, als er 2011 als Studentenführer im Kampf für eine gerechte Bildungspolitik landesweit Bekanntheit erlangte. Viele Mitglieder seines ersten Kabinetts waren nicht nur Freunde und jung, sondern eher Aktivist:innen als Politiker und Politikerinnen. Da waren Anfängerfehler gewissermaßen eingepreist.

Ein Jahr Gabriel Boric in Chile: Weniger Unterstützung, als aufgrund des Wahlergebnisses vermutet

„Boric’ Führungsstil war von Anfang an von einem Mangel an Koordination und einer genauen Prioritätenliste gekennzeichnet“, kritisiert Octavio Avendaño, Politologe an der Universidad de Chile. Schon wenige Tage nach der Amtsübernahme seien die Führungs- und Managementprobleme sowie die mangelnde Erfahrung mehrerer seiner Minister:innen deutlich geworden. Handwerkliche Fehler und Fehleinschätzungen wie beim Entwurf für eine neue Verfassung oder manch unglückliche Aussage von Ministerinnen taten ihr übrigens. Und so ist für den Großteil der Bevölkerung die neue linke Regierung nach einem Jahr ein unerfülltes Versprechen geblieben. Die Zustimmung für Boric liegt laut dem Meinungsforschungsinstitut Cadem bei 35 Prozent. Immerhin ein Plus von zehn Prozentpunkten gegenüber dem Januar.

Diese Ergebnisse zeigen aber auch, dass seine Basis und die Unterstützung für sein Programm schwächer waren, als es das triumphale Wahlergebnis der zweiten Runde mit 58 Prozent vermuten ließ – und dass sich die Regierung dessen nicht schnell genug bewusst geworden ist. Auch deshalb musste der Präsident in nur einem Jahr bei zwei Kabinettsumbildungen Jugend, Aktivismus und Enthusiasmus durch Alter, Erfahrung und Routine ersetzen.

„Der Präsident und seine Partei Frente Amplio sind in dem Dilemma gefangen, gleichzeitig revolutionär und subversiv sein zu wollen, aber vor allem institutionell und offiziell sein zu müssen“, sagt María José Naudon von der Universität Adolfo Ibañez. Mit einer zweiten Umbildung gerade jetzt zum Jahrestag hat Boric sein Kabinett noch mal deutlich erfahrener gestaltet. Mittlerweile wirkt der Präsident wie ein Jungspund im Kreise seiner Ministerinnen und Minister, die durchschnittlich um die 50 Jahre alt sind. Manche sind schon älter als 70 Jahre, so wie der neue Außenminister Alberto van Klaveren. Er diente schon der früheren sozialdemokratischen Präsidentin Michelle Bachelet als Vizeminister. „Jetzt ist die Regierung noch mal deutlich ins Zentrum gerückt“, sagt Politologin Naudon.

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