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G7-Gipfel: Japans Pazifismus steht zur Disposition

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Von: Felix Lill

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Der G7-Gipfel in Hiroshima führt dem Gastgeberland vor, was „Zeitenwende“ für es selbst bedeuten kann. Japans Pazifismus könnte ein Wandel bevor stehen.

Hiroshima - Mayumi Yamashita wird fast übel, wenn sie daran denkt, dass ihr Land gerade ein anderes wird. „Das haben wir doch gar nicht nötig!“ Die 40-Jährige will eigentlich ihren Feierabend in einem Sushilokal in Tsukiji, dem alten Fischmarkt im östlichen Zentrum Tokios genießen, aber die mögliche militärische Zukunft und das rege Treiben der Abendstunden in dem Markt lässt die IT-Angestellte für japanische Verhältnisse auffällig laut werden. „Wir waren doch die Nation, die allen gezeigt hat, wie es auch ohne Militär geht!“

Spätestens seit Ende 2022 ist klar, dass das über Jahrzehnte geltende nationale Leitmotiv des Pazifismus erheblich geschwächt ist. Zwar verbietet Artikel 9 der Verfassung „Krieg als ein souveränes Recht der Nation“. Entsprechend darf Japan offiziell kein Militär haben. Aber eine im Dezember von Premierminister Fumio Kishida lancierte „Nationale Sicherheitsstrategie“ hat hinter diese konstitutionelle Friedfertigkeit mehrere Fragezeichen gesetzt.

G7-Gipfel in Hiroshima: Japan ist einer dreifachen Drohkulisse ausgesetzt

Das ostasiatische Land befinde sich im „ärgsten und kompliziertesten Sicherheitsumfeld“ seit 1945, heißt es in dem Papier. Neben dem aggressiven Nordkorea und dem expansiven China zählt seit der Invasion der Ukraine auch Russland als „potenzielle Bedrohung“. Und um all dem zu begegnen, soll bis 2027 nicht nur Japans Budget für die „Selbstverteidigungskräfte“ – so der Euphemismus für die Streitkräfte – auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts verdoppelt werden. Im Verteidigungsfall wären fortan auch Gegenschläge autorisiert.

In Tsukiji genießt man mehr, als dass man politisiert. ARCHAMBAULT/AFP
In Tsukiji genießt man mehr, als dass man politisiert. © Christophe Archambault/afp

Wenn am Wochenende sich die führenden Industrienationen zum G7-Gipfel in Hiroshima zusammentreffen, dürfte es gegenüber Staaten wie Nordkorea, Russland und China auch eine Rhetorik der kollektiven Abschreckung geben. Und bei der Gelegenheit, die Staatsspitzen der USA, Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und Kanadas zu empfangen, wird sich Gastgeber Japan als regionaler Hegemon präsentieren. Aber das Land selbst hadert mit der Rolle.

Japans Pazifismus: Trotz Bedrohungen ist Krieg kein Mittel der Politik

Mayumi Yamashita versteht „vor allem nicht, wie die Regierung darauf kommt, dass China eine Bedrohung für uns ist. China hat doch nie jemanden angegriffen! So etwas hat in der jüngeren Vergangenheit nur Japan gemacht.“ Sie vergisst dabei die gewaltsame Annexion Tibets 1950 und den Überfall auf Vietnam 1979. Womöglich, lenkt sie dann ein, hege sie eine besondere Sympathie für das eher ungeliebte Nachbarland, da sie beruflich einige Jahre dort verbracht hat. Aber „ich glaube, China als Bedrohung zu bezeichnen, ist für unsere Regierung nur eine willkommene Ausrede, damit sie aufrüsten kann“.

Mit der Einschätzung ist Mayumi Yamashita nicht allein. Generationen von Kindern haben an Japans Schulen stets gelernt, dass Krieg nie ein Mittel der Politik sein dürfe, dass Militär eine Sache von gestern sei. Der Begriff „Frieden“ ist allgegenwärtig. Wer sich zu den Selbstverteidigungskräften meldet, geht weithin nicht davon aus, dass es je einen Ernstfall geben wird.

G7-Gastgeber Land Japan: 60 Prozent der Japaner für Aufrüstung

Allerdings hat die Invasion Russlands in der Ukraine auch das japanische Selbstverständnis erschüttert. Befürchtet wird nicht zuletzt, dass China es Russland bald nachmachen könnte und Taiwan angreift. Dann sähe sich Japan auf der Seite Taiwans. Deshalb befürworteten im Frühjahr 2022 erstmals gut 60 Prozent in Japan eine Stärkung der eigenen Verteidigungskapazitäten. Im März ergab eine Umfrage der Regierung, dass 86 Prozent glauben, es bestehe ein Risiko, dass Japan in einen Krieg verwickelt wird.

Und während die Frage nach der Aufrüstung in der Vergangenheit die wohl wichtigste politische Trennlinie zwischen regierenden Konservativen und linksliberaler Opposition war, verwischt der Ukraine-Krieg diese: „Mittlerweile stellt fast niemand im Parlament mehr infrage, dass sich Japan prinzipiell besser gegen militärische Aggressionen wappnen muss“, sagt Ken Jimbo, Politikprofessor an der Keio-Universität in Tokio. „Der Streit dreht sich jetzt eher darum, welche Formen dies annehmen soll.“

Diskussion um Pazifismus-Artikel in Verfassung: Hat Japan bald wieder ein Militär?

Es ist ein Thema, das in Japan so bedeutend ist, dass auch Nicht-Expert:innen beachtlich gut informiert sind. Am selben Abend anderswo in Tokio, in einer Bluesbar im Stadtteil Setagaya, hat Gitarrist Motockney Nuquee eben ein Lied der pazifistischen japanischen Band „The Blue Hearts“ gespielt. Jetzt sagt er: „Dass wir uns im Fall der Fälle angemessen verteidigen können, ist natürlich wichtig.“ Aber, fügt er hinzu: „Langfristig bin ich trotzdem skeptisch, was diese neue nationale Sicherheitsstrategie angeht. Unsere Selbstverteidigungskräfte sind ja an sich kräftig genug.“ Zudem würde Japan mit mehreren US-Militärbasen im Land ohnehin kaum von einem anderen Land angegriffen werden. Deshalb vermutet der Bluesmann, dass die Sicherheitsstrategie nur ein erster Schritt ist.

„Wenn die Selbstverteidigungskräfte in den nächsten Jahren doppelt so stark werden wie bisher, wäre es dann nicht Unsinn, sie nicht auch mehr einzusetzen?“ So erwartet er, dass die Regierung früher oder später erneut versuchen wird, den Pazifismus-Artikel aus der Verfassung zu streichen oder zumindest abzuschwächen. Über die vergangenen Jahre war eine Mehrheit in Japan meist gegen eine solche Verfassungsrevision. Heute scheint das aber nicht mehr in Stein gemeißelt. Wieder am Mikro sagt Motockney Nuquee: „Das Wichtigste ist, dass wir niemals wieder einen militärischen Erstschlag machen können. Sonst wären wir nicht mehr Japan!“ Sein Publikum klatscht. (Felix Lill)

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