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Verbietet der Pazifismus Waffenhilfe für die Ukraine?

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Gert Krell ist ein emeritierter Professor für Internationale Beziehungen an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Gert Krell ist ein emeritierter Professor für Internationale Beziehungen an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. © FR

„Leider ist zu wenig bekannt, dass es im Pazifismus immer schon zwei Strömungen gegeben hat,“ beobachtet Gert Krell.

In der aktuellen Pazifismus-Debatte beharren Autoren und Autorinnen auf dem biblischen Grundsatz „Du sollst nicht töten“. So hat etwa die Theologin Margot Käßmann in dieser Reihe der FR argumentiert. Sie halten dieses Prinzip grundsätzlich aufrecht, unabhängig von der konkreten Situation, und stellen die Feindesliebe auch über das Recht auf Selbstverteidigung.

Andererseits zeigen sie manchmal zugleich Verständnis dafür, dass sich zum Beispiel ukrainische Soldaten anders entscheiden. Hier deutet sich schon an, dass sich auch pazifistische Christen oder Christinnen Widersprüchen stellen müssen, die sich aus konkurrierenden ethischen Anforderungen ergeben.

Wer immer in einer Zweiersituation seinen eigenen Tod in Kauf nimmt, um nicht selbst töten zu müssen, verdient großen Respekt. Aber kann man als Beobachter den Tod eines unschuldigen Dritten in Kauf nehmen, weil man aus Nächstenliebe auch gegen einen Mörder nicht entschieden, das heißt zur Not auch gewaltsam vorgehen dürfe?

Die Aufforderung zur Feindesliebe kann doch nicht heißen: Liebe deinen Feind, auch wenn dein Freund dabei drauf geht. Wenn es Christenpflicht ist, allen Gedemütigten, Beraubten oder in ihrer Existenz Gefährdeten zu Hilfe zu kommen, dann gibt es keine Alternative dazu, einer Mörderbande, die erkennbar nicht durch Gesten der Zuwendung oder Unterwerfung gestoppt werden kann, mit Gewalt in den Arm zu fallen.

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der FR entsprechen. Alle Artikel finden sich auch auf unserer Homepage unter www.fr.de/friedensfragen FR

Frau Käßmann würde sicher selbst nicht sagen wollen, das Prinzip der Nächstenliebe hätte von den Alliierten gefordert, sich nicht gegen die Eroberungskriege Nazi-Deutschlands zur Wehr zu setzen. Es ist schließlich ein Unterschied ums Ganze, ob man während des Zweiten Weltkriegs als SS-Mann in der UdSSR die Bewohner ganzer Dörfer in Scheunen gesperrt und bei lebendigem Leib verbrannt oder sich als Russe den Partisanen angeschlossen hat.

Diesen Unterschied vergisst sie bei ihrer verständlichen Trauer über das von ihren Eltern erlebte Grauen in Deutschland gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zu erwähnen.

Leider ist zu wenig bekannt, dass es im Pazifismus immer schon zwei Strömungen gegeben hat. Eine, die jede Anwendung von Gewalt verurteilt und verbietet, und eine zweite, die auch Krieg abschaffen will, aber Ausnahmen vom Gewaltverbot zulässt.

Der große Pazifist Albert Einstein, der sich angesichts der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 entschied, von seinem bis dahin vertretenen Prinzip der Wehrdienstverweigerung abzugehen und den Westen zur Aufrüstung gegen Deutschland aufzufordern, ist ein beeindruckendes Beispiel für diese Zweipoligkeit.

Einstein, der sich ausdrücklich weiterhin als Pazifist verstand, gehörte zu der kleinen Minderheit von hellwachen Zeitgenossen, die schon in dieser Machtergreifung eine Kriegserklärung an Europa und an die Juden sah. Auch wenn es paradox klingen mag: Aus der obersten Zielsetzung der Bewahrung von Lebensentfaltungschancen und deren Voraussetzung, der Sicherung der physischen Existenz und Unversehrtheit, folgt nicht in jedem Fall die Gewaltfreiheit.

Es gibt in den internationalen Beziehungen Dilemma-Situationen, in denen der Verzicht auf die Androhung oder den Einsatz von Gegengewalt nicht nur die Hinnahme, sondern sogar einen weiteren Anstieg der Gewalt bedeuten kann. Solche extremen Dilemma-Situationen sind insbesondere die folgenden drei: 1. ein aggressives, expansionistisches Gewaltregime, 2. chronischer Staatsterror mit einer Tendenz zum Völkermord, 3. militarisiertes Chaos.

Aus guten Gründen sind die meisten Expertinnen und Experten der Meinung, dass es sich bei dem Krieg Russlands gegen die Ukraine um ein eklatantes Beispiel für den ersten Fall mit einer starken Beimischung von Elementen des zweiten handelt.

Gert Krell ist emeritierter Professor für Internationale Beziehungen an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Albert Einstein (hier als Denkmal in De Haan) forderte Aufrüstung gegen die Nazis, verstand sich aber als Pazifist.
Albert Einstein (hier als Denkmal in De Haan) forderte Aufrüstung gegen die Nazis, verstand sich aber als Pazifist. © IMAGO/imagebroker

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