Frieden schaffen mit mehr Waffen?

„Einen Krieg mit Russland zu vermeiden, sollte oberste Priorität haben“, schreibt der Politologe Johannes Varwick.
Russlands Krieg gegen die Ukraine ist in Zielen und Mitteln unstrittig ein Zivilisationsbruch, der die internationale Politik auf vielen Ebenen verändert hat und weiter verändern wird. Das Maß an Solidarität mit der Ukraine wird vornehmlich an Umfang und Qualität von Waffenlieferungen gemessen, politische Lösungen oder Warnungen vor unkalkulierbarer Eskalation stehen in der medialen Berichterstattung nicht hoch im Kurs, werden gar als wahlweise naiv oder russlandfreundlich diffamiert.
Kern einer Zeitenwende ist, dass es ein Davor und ein Danach gibt – und das Danach anders aussieht. Es ist jedoch fraglich, ob dabei alle Tabus fallen sollten. Das gilt auch für die Frage von Waffenlieferungen in Konfliktgebiete. War Zurückhaltung – in der Erkenntnis, dass mehr Waffen einen Konflikt nicht lösen, sondern verlängern – jahrzehntelange Praxis in Deutschland, gilt dies heute nicht mehr. Der aus dem Jahr 1971 stammende Grundsatz, Waffen grundsätzlich nur an Bündnispartner im Rahmen der Nato und EU zu liefern und eine Genehmigung der Ausfuhr in Länder zu untersagen, die in bewaffnete Auseinandersetzungen verwickelt sind oder in denen solche drohen, ist damit hinfällig. Deutschland liefert nach anfänglicher Zögerlichkeit inzwischen ein breites Spektrum an Waffen in die Ukraine, von Aufklärungsdrohnen, Panzerabwehrraketen, Luftverteidigungssystemen, Munition für Mehrfachraketenwerfer über Flugabwehrkanonenpanzer bis hin zu Kampfpanzern.
Mit der Lieferung von Waffen ist es aber nicht getan. Eine Ausbildung ukrainischer Soldaten in Deutschland ist dabei ebenso eingepreist wie die nachhaltige Lieferung von Munition, der Aufbau einer belastbaren Logistikkette und Wartungen des Geräts auch in Deutschland. Und wenn man schon auf diesem Weg ist, dann dürften auch Kampfflugzeuge, Kampfdrohnen oder Kriegsschiffe – so jedenfalls die schon lange geäußerte Forderung der Ukraine – nicht mehr tabuisiert werden.
In dieser Logik ist es dann wohl nur eine Frage der Zeit, bis auch Forderungen nach einer Flugverbotszone oder womöglich doch der Einsatz von westlichen Bodentruppen ins Spiel gebracht werden. Denn genau das wäre die Konsequenz, der Ukraine alles an Unterstützung zu geben, was möglich ist: Whatever it takes!
Wer dann Waffenlieferungen mit dem Argument befürwortet, es müsse alles getan werden, damit die Ukraine nicht verliert, der kann nur schwer begründen, warum wir nicht auch selbst für die Ukraine in den Krieg ziehen sollten. Mit Waffenlieferungen wird mithin die Grenze hin zu einer Kriegsbeteiligung stückweise verschoben, und es fällt vermutlich eines Tages schwer, einen aktiven Kriegseintritt zu vermeiden.
Es spricht mithin einiges dafür, dass dies der falsche Weg ist. Vielmehr sollten wir uns mit Nüchternheit und Realismus vergewissern, was denn unsere politischen Ziele sind, und diese bei den schwierigen Abwägungsentscheidungen berücksichtigen. Erstens gilt es; um fast jeden Preis einen offenen Krieg mit Russland zu verhindern, der außer Kontrolle geraten und auch nuklear eskalieren könnte. Zweitens müssen wir der Ukraine helfen, sich als Staat und Gesellschaft zu behaupten, und drittens muss Russland ein Preis für sein Verhalten vor Augen geführt werden, damit sein skrupelloses Verhalten nicht stillschweigend toleriert wird.
Zur Serie
Die Menschen in der Ukraine brauchen Frieden, aber es herrscht Krieg. Welche Wege können zum Frieden führen? Welche Rolle soll Deutschland dabei spielen?
In der Serie #Friedensfragen suchen Expertinnen und Experten nach Antworten auf viele drängende Fragen. Dabei legen wir Wert auf eine große Bandbreite der Positionen – die keineswegs immer der Meinung der FR entsprechen.
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Das Problem ist nur, dass sich diese drei berechtigten Ziele derzeit nicht alle gleichermaßen erreichen lassen – und deshalb ist es notwendig, zu priorisieren. Einen Krieg mit Russland zu vermeiden, sollte dabei die oberste Priorität haben. Immer mehr Waffenlieferungen wären aber ein Schritt in diese Richtung, und deshalb sollten wir damit zurückhaltend sein und nicht alleine die (nachvollziehbaren) ukrainischen Wünsche als Entscheidungsmaßstab nehmen, sondern unsere Interessen im Blick halten.
Wer zudem eine komplette Niederlage Russlands zum Ziel beziehungsweise zur Voraussetzung für eine Friedenslösung erklärt, der landet letztlich doch im Krieg mit Russland. So verständlich die Unterstützung der Ukraine ist, so unverantwortlich ist es, der Ukraine bedingungslos in ihrer „Siegesrhetorik“ zu folgen und das mit zunehmenden Waffenlieferungen zu befeuern.
Dieser Krieg wird nur durch eine diplomatische Lösung beendet werden. Dabei wird keine Seite Maximalforderungen durchsetzen können. Es wird aller Voraussicht nach vielmehr am Ende eine neutrale und demilitarisierte Ukraine geben, die nicht eindeutig dem westlichen oder russischen Einflussgebiet zufällt. Wenn mithin am Ende eines langen oder weiter eskalierten Krieges das gleiche Ergebnis herauskommt, das auch heute bereits möglich wäre, dann ergibt es keinen Sinn, immer weiterzukämpfen, mit zehntausenden Toten und traumatisierten Menschen. Die Waffenlieferungen tragen in dieser Lesart nur zu einer Verlängerung des Krieges bei und sind eine falsche Entscheidung.
Henry Kissingers kluge Analogie zum Ersten Weltkrieg formulierte den Gedanken, dass kein denkbarer Kompromiss die bereits erbrachten Opfer rechtfertigen konnte und daher die Führer zögerten, einen formellen Friedensprozess einzuleiten. Genau darum geht es: nüchtern zu überlegen, wie eine Verhandlungslösung aussehen könnte und nicht ein ‚Kämpfen bis zum letzten Ukrainer‘ mit Waffenlieferungen zu befeuern.
Als Element einer Verhandlungslösung wird es vermutlich am Ende eine neutrale sowie territorial veränderte Ukraine geben. Das ist gewiss keine Ideallösung, setzt natürlich international ein schlechtes Beispiel und verlangt insbesondere der Ukraine schmerzliche Zugeständnisse ab. Allein: Jede andere durchsetzbare Option ist schlechter, weil sie entweder einen jahrelangen und verlustreichen Abnutzungskrieg oder aber eine militärische Eskalation mit Russland zur Folge hätte.
Solidarität mit der Ukraine ist in diesem Sinne keine Frage von möglichst vielen und schweren Waffenlieferungen, sondern eine Frage des Grades der diplomatischen Initiativen, mit unpopulären, aber realistischen Gedanken diesen Krieg zu beenden. Ein solch nüchterner Blick ist keine Empathielosigkeit gegenüber dem Opfer einer Aggression. Sie ist vielmehr notwendiges Element strategischen Denkens.
Johannes Varwick ist Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Universität Halle-Wittenberg.
