Freiheit auf dem Kopf

Es muss sprießen: Vor 50 Jahren wurde das Musical "Hair" in New York uraufgeführt.
Im April 1968 musste ich in den Krieg ziehen. Ich war noch keine neun Jahre alt, und für das Ende des Monats war die feierliche Entgegennahme des Sakraments der Heiligen Kommunion vorgesehen. Dem Jungen müssen die Haare geschnitten werden, befand mein Vater, und damit war keineswegs nur die behutsame Kürzung der Spitzen gemeint, über die ich mit meiner Mutter zu verhandeln versucht hatte. Vergeblich. Der Haarschnitt war Chefsache.
Nichts ist mir in so schmerzhafter Erinnerung geblieben wie die bittere Niederlage im Kampf um mein Haupthaar. Aus Kostengründen legte mein Vater selbst Hand an. Er hatte das, wie er es nannte, beim Kommiss gelernt und sich eigens eine Spezialschere zum Ausdünnen zugelegt. Der Kriegsteilnehmer zwang seinen Sohn in den Kampf, der familiäre Friede war erst wiederhergestellt, als die Haare wachsen durften. Aber das war erst drei, vier Jahre später der Fall, als die Mode langer Haare selbst von Fußballidolen wie Wolfgang Overath und Günter Netzer bevorzugt wurde. Zur Heiligen Kommunion gab es keine Kompromisse. Den Kindern der Nachbarschaft ging es ähnlich.
„Hair“ - Soundtrack zu einer Art kultureller Heilung
Ab war ab, und das Musical „Hair“, das beinahe zeitgleich, am 29. April 1968, am Broadway Premiere hatte, war der Soundtrack zu einer Art kultureller Heilung. Wahrscheinlich habe ich die LP mit den Liedern des Musicals erst Monate später gehört, tatsächlich aber war sie eine der ersten, die wir auf dem neuen Dual-Plattenspieler abspielten. Mein älterer Bruder hatte ihn von seinem ersten Lehrlingsgehalt erworben, ich durfte mithören. Bob Dylans „Blonde on Blonde“, „Sgt. Pepper“ von den Beatles und „Electric Ladyland“ von Jimi Hendrix waren die ersten Platten, die wir darauf abspielten, irgendwo dazwischen auch „Hair“.
Klar, das Musical verhandelte meinen Kampf. „I want it long, straight, curly, fuzzy/Snaggy, shaggy, ratty, matty/ Oily, greasy, fleecy/Shining, gleaming, steaming/ (...) Bangled, tangled, spangled, and spaghettied!“ Wie auch immer, es sollte wachsen. Und Haare waren eine Metapher für ein vielfältiges Sprießen all dessen, was in dem Musical sonst noch thematisiert wurde. Keine Ahnung, was das mit dem Zeitalter des Wassermanns zu tun haben mochte, das in dem Auftaktsong „Aquarius“ besungen wurde.
Jahre vor dem Durchbruch der globalen grünen Bewegung war „Hair“ Vorbote einer aufkeimenden Ökologiebewegung. Das Stück handelte von einem jungen Amerikaner osteuropäischer Herkunft, Claude Hoover Bukowski, der vor der Einberufung in die US-Armee stand und den nun sein Gewissen plagte, ob er seiner patriotischen Pflicht nachkommen müsse oder sich lieber der Hippiebewegung seiner neuen Freunde anschließen solle.
Ich bezweifle, dass ich während des ersten Abspielens verstand, worin genau der Konflikt von Bukowski bestand und was dessen Freund und Guru Berger anzubieten hatte. Mit etwas theaterwissenschaftlichem Rüstzeug hätte man wissen können, dass hier eine groteske Zusammenballung von Mode, Kitsch, Esoterik und Rambazamba auf die Bühne gebracht wurde. Gerome Ragni, James Rado (Buch) und Galt MacDermot (Musik) hatten mit einem bis dahin nicht bekannten Gespür für den Zeitgeist eine temporeiche Nummernrevue fabriziert, die das diffuse Aufbegehren der Generation der Wehrpflichtigen in die kommerzielle Verwertungskette einspeiste.
Alles ist politisch
„Hair“ war natürlich eine Vereinnahmung der kritischen Impulse durch den Mainstream – musikalisch und choreografisch gut gemacht. Und doch war etwas zu spüren. Die existenzielle Wahl, vor die Claude Hoover Bukowski sich gestellt sah, hatte der Boxweltmeister Cassius Clay, der sich in Muhammad Ali umbenannt hatte, auf dramatische Weise für sich entschieden. Weil er sich seiner Einberufung in die Armee entzogen hatte, wurde „dem Größten“ der Weltmeistertitel aberkannt. Alles ist politisch, das war trotz aller Trivialisierung die Kernbotschaft von „Hair“, das vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs und der Bewegungen gegen Rassendiskriminierung, der sexuellen Befreiung und der religiösen Sinnsuche spielte.
1968 war kein Schlüsseljahr des Pop, die deutschen Charts wurden von Heintjes „Mama“ dominiert. Und doch lag so etwas wie Aufbruch in der Luft, in den amerikanischen Billboard-Charts waren auffällig viele Motown-Songs weit oben platziert. Dass man im Pop-Business schnell sein musste, begriffen auch die deutschen Musikproduzenten. Wenige Monate nach dem Durchbruch von „Hair“ am Broadway, das zuvor bereits in einer anderen Version am Off-Broadway herausgekommen war, gab es in München die Premiere einer deutschen Fassung, mit Rainer Schöne in der Rolle Bergers.
Bemerkenswerter sind in diesem Zusammenhang die Frauenrollen, die nicht primär eine musikalische, sondern eine ikonografische Bedeutung hatten. Über die deutsche Version von „Hair“ wurde die spätere Disco-Königin Donna Summer entdeckt, während an ihrer Seite die Sängerin Su Kramer den Afro-Look in die deutsche Unterhaltungslandschaft einführte. Der Afro-Look war der unmissverständliche Ausdruck eines politischen und sexuellen Freiheitsbegehrens, das nicht nur verbal beansprucht, sondern geradezu plastisch in Szene gesetzt wurde.
Su Kramer verkörperte die Rolle der Sheila, in der Londoner Ausgabe des Musicals gab die Bluessängerin Marsha Hunt die Nebenfigur der Dionne. Sie hatte nur wenige Sätze Text und wurde doch zur unverwechselbaren „Hair“-Ikone. Ihr Konterfei zierte Poster, Plakate und Plattencover. Schon rein äußerlich war sie eine Schwester der US-Bürgerrechtlerin Angela Davis, die aufgrund ihres imposanten Putzes ebenfalls wie eine Pop-Ikone daherkam.
Für Marsha Hunt bedeutete ihre Mitwirkung in „Hair“ den Start in eine beachtliche Solokarriere, ihre Single „Keep the Customer satisfied“ wurde ein Welthit. Mit Mick Jagger hat Hunt eine Tochter, später schrieb sie drei Romane und engagierte sich gegen Rassendiskriminierung. Man könnte sagen, dass niemand die Botschaft von „Hair“ mehr gelebt hat als Marsha Hunt. Ein begnadeter Künstler und Werbemacher wie Charles Wilp hat das sehr früh begriffen. In seinem berühmten Werbeclip für das Zuckergetränk Afri-Cola holte er neben Donna Summer auch Marsha Hunt hinter die mit schmelzenden Eiskristallen verzierte Glasscheibe.
Was das alles mit der 68er-Bewegung außer der zeitlichen Koinzidenz zu tun hat? Als die „taz“ 1998 das 30. Jubiläum der Revolte mit einer Sonderausgabe feierte, wurden die Helden der Zeit als Zeitungsmacher eingeladen. Charles Wilp war der Ehrengast dieser Gruppe. Er, der Ältere, war kein echter 68er. Zu ihm aber sahen sie alle in bewundernder Anerkennung auf. Dabei wirkte er auch damals noch immer wie ein Typ aus dem Musical.