1. Startseite
  2. Politik

Frankreichs nuklearer Ressourcen-Moloch

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Joachim Wille

Kommentare

Das französische Kernkraftwerk Fessenheim am Ufer des Rhein im Elsass, in unmittelbarer Nähe zur deutschen Grenze.
Das französische Kernkraftwerk Fessenheim am Ufer des Rhein im Elsass, in unmittelbarer Nähe zur deutschen Grenze. © Imago

Kernkraft ist in Deutschlands Nachbarland weiterhin Trumpf – und ein Milliardengrab.

Deutschland und Frankreich gelten als die Motoren der EU. Sie sind die größten Volkswirtschaften in der Union mit vergleichbarer Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung. Doch in der Energiepolitik beschreiten sie Wege, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Das zeigt sich aktuell besonders deutlich: Die Bundesrepublik steigt endgültig aus der Atomkraft aus und strebt 100 Prozent erneuerbare Energien an, der Nachbar hingegen hält dauerhaft an der Kernspaltung fest und will sogar neue AKW bauen, die nach 2050 auch Strom liefern sollen.

Frankreich ist wie niemand sonst von der Atomkraft abhängig. Es laufen dort 56 Reaktoren, die im Schnitt rund zwei Drittel des verbrauchten Stroms liefern, der übrigens auch in vielen Haushalten zum Heizen eingesetzt wird. Zum Vergleich: In Deutschland war der Spitzenwert, erreicht 1999, rund 35 Prozent. In Frankreich kommt derzeit erst rund ein Viertel des Stroms aus erneuerbaren Energien, hierzulande knapp die Hälfte.

Allerdings hat die Konzentration auf Atomkraft Frankreich große Probleme beschert. Die alternde AKW-Riege ist zunehmend störanfällig. 2022 musste zeitweise fast die Hälfe der Reaktoren abgeschaltet werden, wegen Revisionen, Korrosionsrissen oder Kühlwasser-Mangel. Erstmals seit 1980 importierte Frankreich netto Elektrizität – übrigens nicht unerhebliche Mengen aus Deutschland. Der Strommangel trieb die Preise in die Höhe, nicht nur in Frankreich selbst, sondern auch in den umliegenden Ländern.

Ran ans Ersparte

Ein Faktor bei der sinkenden Zuverlässigkeit der AKW ist ihr Alter. Die meisten der 56 Reaktoren haben mehr als 30 Jahre auf der Kappe, ein Drittel sogar über 40. Dadurch häufen sich nötige Reparaturen. Allerdings traten gravierende Schäden auch an den neueren, besonders leistungsstarken Anlagen auf. Bei einer Kontrolle im vorigen Jahr wurden Korrosionsrisse an Leitungen im Notkühlsystem eines Reaktors entdeckt, weswegen eine Reihe baugleicher Anlagen bis Ende 2023 durchgecheckt und gegebenenfalls repariert werden soll. Und dann war da im März ein besonders kritischer Fall in Penly in der Normandie: ein 24 Millimeter tiefer Riss in einer 27 Millimeter dicken Leitung. „Wir waren nahe dran an einem Leck“, gestand Karine Herviou, Vizechefin des Instituts für Strahlenschutz und Nuklearsicherheit in Paris.

Ein weiteres Problem ist der Klimawandel, der die Wasserführung der Flüsse verändert. Weil sie während der langen Hitzewelle im Sommer ’22 teilweise zum Rinnsal wurden, mussten einige Reaktoren drosseln oder ganz runterfahren. Das Kühlwasser hätte sich sonst zu stark erhitzt. AKW sind offiziell für zwölf Prozent des Wasserbrauchs im Land verantwortlich, nur der Agrarsektor braucht mehr. Und das Wasserproblem wird größer, erwarten Klimaforscher. Prognosen des Rechnungshofs in Paris besagen, dass die Stromproduktion in heißen Zeiten zur Jahrhundertmitte dreimal so häufig wie heute gedrosselt werden muss.

Die Stillstände, Reparaturen und Wartungen haben den staatlichen AKW-Betreiber „Électricité de France“ (EDF) in Schieflage gebracht. Er ist inzwischen mit 64,5 Milliarden Euro verschuldet, obwohl die Regierung die Atomkraft kräftig subventioniert – laut einem EU-Bericht zwischen 2017 und 2020 mit bis zu zwei Milliarden Euro. Andere Schätzungen liegen noch deutlich höher. An der europäischen Strombörse EEX liegen die Kontrakte für das erste Quartal 2024 doppelt so hoch wie in Deutschland.

Die Regierung hält aber Kurs: Sie will in den 2030er-Jahren sechs neue große AKW bauen lassen, zudem steckt sie eine Milliarde Euro in die Entwicklung von Klein-Reaktoren. Dabei sind die Kosten des einzigen jüngeren Neubaus, Flamanville in der Normandie, von geplanten 3,4 auf über 20 Milliarden Euro explodiert, ebenso die Bauzeit von fünf auf über 16 Jahre.

EDF rechnet für die neuen sechs Reaktoren mit „Investitionen in extremer Höhe“, wofür die Finanzierung durch Private trotz der von Paris durchgedrückten „grünen“ Bewertung der Atomkraft in der EU-Taxonomie schwierig werden dürfte. Die Regierung hat daher angekündigt, Geld von dem im Volk beliebten staatlichen Sparbuch „Livret A“ in die AKW-Projekte zu leiten. Bisher dient es vor allem dazu, Sozialwohnungen zu bauen.

Das Ende des Atomzeitalters in Deutschland

Die Frankfurter Rundschau blickt in Analysen und Interviews zurück auf das Atomzeitalter in Deutschland. Unser Autor ist Joachim Wille. Er schreibt seit 40 Jahren über Umweltthemen für die FR - die Energiepolitik und die Atombewegung waren immer einer seiner Schwerpunkte. Niemand sonst also wäre dazu mehr berufen, eine Bilanz zu ziehen.

Das Atomzeitalter in Deutschland endet, die Geduldsprobe geht weiter – bis Ende des Jahrhunderts. Deutschland verabschiedet sich am Samstag von der Atomkraft. Die Träume vom nuklearen Paradies sind verflogen, zurück bleiben strahlender Müll und die Suche nach Lagerplätzen.

Atomkraft: Die Erfindung des „Restrisikos“. Atomkraftwerke durften nicht gefährlich wirken. Deswegen wurde für die von ihnen ausgehenden Unwägbarkeiten zu einem semantischen Trick gegriffen.

Warum der Atomausstieg kein deutscher Sonderweg ist. Nuklearexperte Mycle Schneider im FR-Interview über die oft angekündigte „Renaissance“ der Atomkraft und warum das nichts mit der industriellen Realität zu tun hat.

Frankreichs nuklearer Ressourcen-Moloch. Kernkraft ist in Deutschlands Nachbarland weiterhin Trumpf – und ein Milliardengrab.

AKW-Brennelemente: Umstieg auf westliche Atome. Tschechien nutzt künftig keine russischen Brennelemente mehr. Die Marktmacht Russlands ist aber weiterhin groß. Das zeigt auch ein französisch-russisches Joint-Venture, das im Emsland Brennstäbe produzieren will.

Weitere Texte von FR-Umweltexperte Joachim Wille.

Auch interessant

Kommentare