Macron zieht seine Rentenreform durch – trotz heftigen Widerstands
Die Pariser Medien machen in Frankreich einen sozialen und politischen „Scherbenhaufen“ aus. Rechtspopulistin Marine Le Pen profitiert.
Paris - Es war kurz nach drei Uhr nachts, als das Präsidialamt im Elysée-Palast am Samstag die Rentenreform „promulgierte“ (verkündete). Am Vorabend hatte der Verfassungshof die umkämpfte Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre abgesegnet. Das Reformwerk soll am 1. September in Kraft treten.
Die Gegenseite gibt sich noch nicht geschlagen. Manon Aubry von der Linkspartei der „Unbeugsamen“ warf dem Staatschef vor, er habe den Text „wie ein Dieb mitten in der Nacht im Verborgenen“ unterzeichnet. Der gemäßigte CFDT-Chef Laurent Berger warnte, die „Missachtung“ des Volkswillens könne in „Gewalt“ umschlagen. Kommunistenchef Fabien Roussel hatte schon nach Bekanntwerden des Verfassungsverdiktes eindringlich an den Staatschef appelliert, das Gesetz nicht zu promulgieren. „Das würde das Land in Brand stecken“, warnte er.

Spontane Proteste in Frankreich gegen Rentenreform
Am Wochenende kam es in Frankreich von Nizza bis in die Bretagne-Hauptstadt Rennes zu spontanen Aufläufen und am Rande zu Zusammenstößen mit der Polizei, die zahlreiche Demonstrierende verhaftete. Autos wurden in Brand gesteckt, Ladengeschäfte verwüstet.
Premierministerin Elisabeth Borne wiederholte dagegen, es gebe „keine Sieger oder Besiegten“. Gewiss handele es sich um eine „schwierige Reform“, doch sie nehme Rücksicht auf die persönliche Situation. Wer mit 18 Jahren zu arbeiten begonnen habe, könne schon mit 60 in Rente gehen. Für körperlich harte Jobs würden berufliche Weiterbildungen finanziert.
Der Gewerkschaftschef Berger hielt dagegen, namentlich für Arbeiter:innen werde sich nun „das Leben verändern“. Sie seien „alle Verlierer“. Er rief gegen die zunehmende Resignation seines Lagers zu einer Groß-Mobilisierung am Tag der Arbeit des 1. Mai auf. Das klingt allerdings eher nach einer Pflichtantwort. In den vergangenen drei Monaten waren wöchentlich mehr als eine Million Menschen auf die Straße gegangen, doch sinkende Zahlen und eine gewisse Ermüdung sind unübersehbar.
Macron spricht in TV-Ansprache zur Nation
Ein harter Schlag ist für die Gegner:innen der Reform auch, dass der Conseil Constitutionnel ihr Projekt für eine Volksabstimmung zum Rentenalter als nicht verfassungskonform ablehnte. Ein zweites Gesuch, über das anfangs Mai beschlossen wird, scheint nicht viel größere Chancen zu haben.
Emmanuel Macron will das Momentum nutzen, nachdem ihm der Verfassungsrat in einem unerwarteten Ausmaß recht gegeben hat. Am Montagabend wird er sich der Nation in einer Fernsehansprache erklären. Trifft er den richtigen Ton, kann er den Rentenkonflikt möglicherweise doch noch aussitzen. Seine Berater:innen sind aber besorgt: Bei einem ersten Auftritt Mitte März hatte Macron die Gegenseite mit einem abgehobenen und unversöhnlichen Tonfall noch weiter vor den Kopf gestoßen.
Die Pariser Medien machen schon jetzt einen sozialen und politischen „Scherbenhaufen“ aus. Viele fragen, wie der Präsident bis zu den nächsten Wahlen 2027 regieren wolle, wenn er es sich mit so vielen Landsleuten verscherzt habe und in der Nationalversammlung über keine Mehrheit mehr verfüge. Möglich ist, dass er am Montag eine Reihe sozialer Reformen ankündigt, unter anderem, damit Ältere unter 64 nicht so einfach auf die Straße gesetzt werden können. Dass Macron Neuwahlen ansetzt, ist nicht zu erwarten. Seine Partei könnte derzeit nur verlieren, während die Rechtspopulistin Marine Le Pen konstant zulegt. Die neue Chefin der Gewerkschaft CGT, Sophie Binet, warf Macron vor, er öffne Le Pen mit seinem sturen Beharren „Tür und Tor“. (Stefan Brändle)