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„Ihr seid Mörder“ - Aufstand gegen die Mullahs

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Von: Martin Gehlen

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Junge Iranerinnen demonstrieren auf den Straßen von Teheran ihre Solidarität mit den Todesopfern von Flug PS 752 - und ihre Wut auf die Regierung.
Junge Iranerinnen demonstrieren auf den Straßen von Teheran ihre Solidarität mit den Todesopfern von Flug PS 752 - und ihre Wut auf die Regierung. © rtr

Im Iran protestieren Tausende gegen die religiöse Führung. Nach dem Abschuss des Passagierjets tobt der Machtkampf zwischen Hardlinern und der moderaten Regierung.

Die Familien der Opfer können es nicht fassen. Rund um den Globus herrscht Empörung und ungläubiges Kopfschütteln über das Verhalten des Iran nach der Flugzeugkatastrophe von Teheran.

Vertuschung durch den Iran

Im Land selbst gingen am Wochenende in zahlreichen Städten die Menschen auf die Straße, aufgebracht über die dreisten Vertuschungsversuche und das späte Geständnis der eigenen Führung, dass die ukrainische Boeing 737-800 durch eine iranische Rakete getroffen wurde. Drei Tage lang hatten die Verantwortlichen alles abgestritten und in großer Hast versucht, die Absturzstelle von den Spuren des Geschosses zu reinigen. Am Samstag früh kam dann die Wende – ausgelöst durch den wachsenden internationalen Druck.

Präsident Hassan Ruhani und Außenminister Mohammed Dschawad Sarif erklärten, die Revolutionären Garden hätten die Passagiermaschine kurz nach dem Start irrtümlich angegriffen. „Das ist eine große Tragödie und ein unverzeihlicher Fehler“, twitterte Ruhani. Sarif entschuldigte sich bei den Angehörigen, wies aber auch dem „Abenteurertum der USA“ in der Region eine Mitschuld an dem Desaster zu. Der Oberste Revolutionsführer Ali Chamenei forderte die Streitkräfte auf, sich dem eigenen Versagen zu stellen. Noch vor einer Woche hatte das Regime nach der gezielten Tötung seines Topgenerals Ghassem Soleimani durch eine US-Drohne den großen Schulterschluss mit der Bevölkerung inszeniert. Hunderttausende demonstrierten und skandierten „Tod den USA“.

Raketen auf Luftwaffenbasis im Irak

Auf der von US-Truppen genutzten Luftwaffenbasis Balad im Irak sind am Sonntag neun Mörsergranaten eingeschlagen. Dabei seien drei irakische Soldaten verletzt worden, die das Eingangstor der Basis bewacht hätten, teilte die Polizei in der Provinz Salah al-Din mit. Die Geschütze hätten das Rollfeld sowie den Eingangsbereich getroffen. Wer hinter dem Angriff steckt, war zunächst unklar. Der Stützpunkt liegt rund 80 Kilometer nördlich der Hauptstadt Bagdad.

An diesem Wochenende jedoch hatte sich der Wind bereits wieder gedreht. „Tod den Lügnern“, „Ihr seid Mörder“, riefen die überwiegend jungen Demonstranten, rissen Soleimani-Poster herunter und forderten den Rücktritt von Revolutionsführer Chamenei. „Hau ab, Diktator“, rief die Menge, bis Sicherheitskräfte sie mit Tränengas auseinandertrieb. Wie nervös die Lage im Iran ist, zeigte auch die Festnahme des britischen Botschafters Rob Macaire, der an einer Gebetswache für die Opfer an der Amir-Kabir-Universität teilnehmen wollte und Zeuge der Proteste wurde.

Revolutionsführer soll zurücktreten

Revolutionäre Garden führten ihn ab und ließen ihn erst eine Stunde später wieder frei, nachdem das iranische Außenministerium interveniert hatte. Nicht nur auf den Straßen, auch in den sozialen Medien machte die Bevölkerung ihrem Unmut Luft – über den katastrophalen Abschuss, die dreisten Lügen der Verantwortlichen und das offenkundige Ausmaß an Inkompetenz und Desorganisation bei den Streitkräften.

Noch am Freitag hatte der Chef der iranischen Luftfahrtbehörde, Ali Abedsadeh, vor der Presse kategorisch ausgeschlossen, dass das Flugzeug von einer Rakete getroffen worden sei. Andere Regimevertreter sprachen sogar von einer westlichen Verschwörung, während unter den Augen der entsetzten ukrainischen Ermittler Bulldozer an der Unglücksstelle die Wrackteile auf einen Haufen zusammenschoben und Hunderte iranische Offizielle, teils in Zivil und teils in Uniform, kleinere Trümmerteile auflasen und damit verschwanden. „Dieser Morgen war nicht angenehm, aber er brachte die Wahrheit“, reagierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Samstag auf die Neuigkeiten aus Teheran. Er erwarte ein Schuldbekenntnis des Iran, eine Entschädigung der Angehörigen und eine Untersuchung, die „rasch und ohne Behinderung erfolgt“. Auch der kanadische Premier Justin Trudeau, dessen Nation 57 Staatsbürger bei dem Unglück verlor, forderte vom Iran „volle Klarheit“.

Donald Trump warnt Teheran

Bundeskanzlerin Angela Merkel und der britische Premier Boris Johnson sprachen von „einem wichtigen ersten Schritt“. US-Präsident Donald Trump warnte die iranische Führung, nicht erneut an den Demonstranten ein Massaker zu verüben, wie bei den landesweiten Unruhen im November, als offenbar rund 1500 Regimekritiker getötet wurden.

Das dramatische Hin und Her in Teheran signalisiert einen erbitterten Machtkampf hinter den Kulissen zwischen den Revolutionären Garden und der moderaten Regierung, bei der Präsident Ruhani am Ende die Oberhand behielt und die Absicht der Hardliner durchkreuzte, den Abschuss zu vertuschen. Am Samstag trat der Luftwaffenchef der Revolutionswächter, Amir Ali Hadschisadeh, im Staatsfernsehen auf und sagte, er übernehme die volle Verantwortung und werde sich allen Entscheidungen beugen, die jetzt getroffen würden.

Passagierjet verwechselt mit Cruise Missile

„Ich wünschte, ich wäre tot und müsste dies nicht miterleben“, sagte der General. Der Raketenschütze habe den Passagierjet für eine amerikanische Cruise Missile gehalten. Der Versuch, seinen Vorgesetzten zu erreichen, scheiterte, weil die Telefonleitung nicht funktionierte. So sei der Mann auf sich allein gestellt gewesen. Zehn Sekunden Zeit seien ihm noch geblieben, dann traf er die fatale Fehlentscheidung.

Wie verheerend die versuchte Irreführung der Weltöffentlichkeit für das noch verbliebene Ansehen des Iran im In- und Ausland sein wird, hängt nun entscheidend davon ab, ob Teheran sich fortan absolut transparent verhält. Ruhani weiß, dass das dreiste Taktieren bisher vor allem den Revolutionären Garden schadet, die sich wie ein Staat im Staate aufführen.

Der Präsident galt als eingeschworener Gegner des getöteten Generals Soleimani. Mehrfach kritisierte er öffentlich die übermächtige Rolle, die die Revolutionswächter im iranischen Staatssystem spielen. Am Wochenende rief er den ukrainischen Präsidenten Selenskyj an, sagte ihm „die volle juristische und rechtliche Zusammenarbeit zu, einschließlich der Entschädigung für die Angehörigen“. Keiner der Verantwortlichen werde ungestraft davonkommen, versprach er. Und so scheint Ruhani entschlossen, den Absturz zu nutzen, um die Macht der Hardliner endlich zu begrenzen.

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