Flüchtlingsdrama vor Italiens Küste: Kein Rettungsversuch im Mittelmeer

Italiens Rechtsregierung wird vorgeworfen, sie hätte zu wenig unternommen, um die Menschen zu retten. Über 60 Personen starben an italienischer Küste - Staatsanwaltschaft hat Untersuchungen eingeleitet.
Die 66 Särge sind in Reih‘ und Glied in der großen Sporthalle der kalabrischen Provinzhauptstadt Crotone aufgestellt. Auf jedem liegt ein Kranz mit Blumen. Auch weiße Kindersärge sind darunter; auf einen hat jemand einen Spielzeug-Lastwagen gestellt. Die Bilder werden vom italienischen Fernsehen in allen Nachrichtensendungen übertragen und prangen auf den Titelseiten der Zeitungen – ein Mahnmal, und eine unausgesprochene Anschuldigung: Warum hat diese Menschen, warum hat die Kinder niemand gerettet?
Genau dieser Frage geht der Staatsanwalt von Crotone nach. Er hat eine strafrechtliche Untersuchung des Bootsunglücks eingeleitet, das sich am Sonntag vor der Küste Kalabriens ereignete. Auch im Parlament in Rom gab es eine Anhörung. Fest steht, dass es keinen Rettungsversuch gab: Ein Überwachungsflugzeug der europäischen Grenzschutz-Agentur Frontex hat das Flüchtlingsboot zwar am Abend vor dem Unglück gesichtet, und die Aufnahme einer Wärmebild-Kamera legte nahe, dass sich zahlreiche Personen an Bord befanden. Weil sich das Boot aber noch nicht in Seenot befand, alarmierte die Frontex-Crew nicht die Küstenwache, sondern die italienische Finanzpolizei, die zwei Schiffe losschickte.
Wegen der widrigen Witterungsverhältnisse – Windstärke 8, vier Meter hohe Wellen – schafften es die beiden Schiffe aber nicht, das Flüchtlingsboot zu erreichen – und kehrten in ihre Häfen zurück. Auf den Gedanken, dass ein Seegang, der selbst die modernen Schnellboote überfordert, auch einen überladenen, hölzernen Fischkutter in Schwierigkeiten bringen könnte, kam offenbar niemand, vom Flüchtlingsboot selber kam kein Notruf. Die Küstenwache, die über für die Rettung von Schiffbrüchigen ausgerüstete Boote verfügt, blieb untätig. Sie kam erst, als das Flüchtlingsboot hundert Meter vor dem Strand der Kleinstadt Cutro zerschellt war. Die Crew der Küstenwache konnte nur noch helfen, die Dutzenden von Toten aus der Brandung zu tragen.
Die Opposition und Vertreter der Kirche wie der Bischof von Palermo machten umgehend die restriktive Migrationspolitik der Rechtsregierung von Giorgia Meloni und die Untätigkeit der EU für das Drama in Kalabrien verantwortlich. Im Zentrum der Kritik stehen der parteilose Innenminister Matteo Piantedosi, der mit einem Dekret die Arbeit der privaten Seenotretter eingeschränkt hat, sowie Lega-Chef Salvini, der als Infrastrukturminister für die Küstenwache zuständig ist. Die beiden Hardliner geben den Takt an bei der Migrationspolitik der Regierung – und waren schon früher ein Team: Als Salvini 2018/19 als Innenminister die „Politik der geschlossenen Häfen“ einführte, war Piantedosi sein Kabinettschef.
Piantedosi wies jede Kritik zurück – und machte stattdessen die Flüchtlinge für das Unglück verantwortlich. Er warf ihnen Verantwortungslosigkeit vor: „Sie hätten bei diesem Wetter schon gar nicht losfahren dürfen. Die Verzweiflung rechtfertigt es nicht, dass man seine eigenen Kinder in Gefahr bringt“ - angesichts der 66 Särge in Crotone ist weniger Empathie kaum vorstellbar. Nachdem es Rücktrittsforderungen hagelte, ruderte er zurück: Er sei über die Tragödie menschlich ebenfalls erschüttert, aber sein Amt erlaube es ihm nicht, seine Gefühle zu zeigen.
Letztlich ist die Regierung von Giorgia Meloni mit ihrer Politik der Kriminalisierung von Migrant:innen und privaten Retter:innen gescheitert: Die Zahl der in Italien ankommenden Bootsflüchtlinge hat sich in den ersten zwei Monaten des Jahres nicht wie im Wahlkampf versprochen reduziert, sondern gegenüber dem Vorjahr auf über 14 000 fast verdreifacht.