Flucht vor der totalen Unterdrückung

Viele Frauen in Saudi-Arabien wollen ihre Bevormundung nicht mehr hinnehmen und fliehen - auch nach Deutschland.
Mehr als fünf Jahre nach ihrer Flucht aus Saudi-Arabien will die Frau weiterhin unerkannt bleiben: „Ich habe mich mein Leben lang versteckt“, sagt sie am Telefon. Auch in Deutschland hält sie sich bedeckt. Im Gegensatz zu Rahaf Mohammed, die mit ihrem spektakulären Auftritt via Twitter auf ihrer Flucht Anfang Januar weltweit Aufmerksamkeit und schließlich Asyl in Kanada erhalten hat, möchte Aisha keine Öffentlichkeit. Auch ihr Name sei nicht echt, „er hat nichts mit mir zu tun, aber ich mag ihn“, so könne man sie nennen.
Saudi-Arabien gilt bisher nicht als Herkunftsland vieler Flüchtlinge, obwohl es kein Geheimnis ist, dass die Öl-Monarchie sich wenig um Menschenrechte schert. Nur einzelne Fälle massiver Repression gegen Kritiker des Königshauses dringen nach draußen wie etwa das Schicksal von Raif Muhammad Badawi, der 2013 zu zehn Jahren Haft und 1000 Peitschenhieben verurteilt worden ist.
Da war es Aisha bereits klar, dass sie nicht noch länger in Saudi-Arabien bleiben will. Sie ist heute älter als 40 Jahre alt – auch ihr Alter soll nicht genau genannt werden –, sie ist unverheiratet und hat keine Kinder. Im Gegensatz zu der 18-jährigen Rahaf Mohammed floh Aisha nicht vor ihrer Familie, die habe sie immer unterstützt, sagt sie. Aber sie sei nicht gläubig, „und die Religion beherrscht alles in dem Land“. Und Männer. Ohne die Erlaubnis eines männlichen Vormunds – Vater, Bruder oder Ehemann – können Frauen vieles nicht tun: ihren Bildungsweg bestimmen, einen Partner frei aussuchen, bei der Familienplanung mitreden.
Mit der Verbreitung von Facebook und Twitter traf Aisha im Internet Gleichgesinnte und tauschte sich mit ihnen aus. Doch diese virtuelle Freiheit währte nicht lange. „Eines Tages hat eine Bekannte gesagt, ich soll aufpassen, was ich schreibe.“ Im Nachhinein wird deutlich, dass diese Warnung zeitlich mit dem Aufflammen des kurzen Arabischen Frühling zusammenfiel, erinnert sich Aisha. Sie löschte ihre Onlinekonten, die sie sowieso unter falschen Namen betrieben hat, und kehrte zurück in ihr Leben in Saudi-Arabien, in dem sie ihre Ansichten verstecken musste.
Taleb Al Abdulmohsen war zu der Zeit schon in Deutschland, aber noch nicht als Flüchtling. Er absolvierte eine Facharztausbildung. Er hatte noch keine Pläne, hier Asyl zu beantragen. Aber so wie Aisha war er nicht gläubig, genauer gesagt: nicht mehr. „Ich habe mich 1997 vom Islam losgesagt“, erzählt er in einer E-Mail. Er versteckt sich nicht, er schickt die Kopie seines inzwischen abgelaufenen saudischen Passes als Anhang zu seiner E-Mail.
Von Deutschland aus diskutierte er mit anderen Saudis in Foren über Religion und übte Kritik daran, wie sehr sie das Leben im Alltag bestimmt. Das wurde ihm zum Verhängnis, obwohl er anonym agierte. Er wurde bedroht.
In der E-Mail erzählt er: „Ich fand das Leben in Saudi-Arabien eine Qual, du musst so tun, als seiest du ein Muslim und musst all den Ritualen folgen. Ich wusste, dass ich nicht länger in Angst leben konnte, und als ich verstand, dass sogar anonymer Aktivismus mich als saudischen Ex-Muslim gefährdet, habe ich Asyl beantragt.“
Aisha hatte dagegen nichts über das System des Asyls gewusst. „Ich hatte davon keine Ahnung. Erst als Hamza Kashgari nach Malaysia floh, dort Asyl beantragte, habe ich davon erfahren.“ Kashgari hatte die Proteste in einer saudi-arabischen Stadt während des Arabischen Frühlings online unterstützt. Dafür wurde er verfolgt. Er konnte zwar nach Malaysia fliehen, doch das Land lieferte ihn im Februar 2012 trotz internationaler Proteste an Riad aus.
Sinnlos war seine gescheiterte Flucht aber offenbar nicht. Sie brachte Menschen wie Aisha dazu, sich mit der Möglichkeit der Flucht auseinanderzusetzen. Deutschland war dabei gar nicht ihre erste Wahl, eigentlich sollte es Norwegen werden. „Aber da ist es im Winter zu dunkel, das geht nicht“, sagte Aisha. Drei Jahre dauerte es schließlich, bis sie nach ihrer Ankunft hier den ersehnten Schutzstatus erhielt.
Sie lebt heute in Ostdeutschland, so wie auch Taleb Al Abdulmohsen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) verweist alle Flüchtlinge an eine Außenstelle in Sachsen-Anhalt. Viele sind es nicht, aber es fällt auf, dass entgegen der Gesamtverteilung der Flüchtlinge die meisten Antragsteller aus Saudi-Arabien Frauen sind.
Seit 2016 haben 161 Menschen aus Saudi-Arabien in Deutschland Asyl beantragt – 89 davon Frauen, zeigen die Bamf-Daten. Ihre Anerkennungsquote ist hoch, sie liegt bei rund 71 Prozent.
Nach Ansicht von Taleb Al Abdulmohsen gebe es in Saudi-Arabien viele Frauen, die das Land verlassen würden, wenn sie nur könnten. Zum Reisen brauchen sie nämlich die Erlaubnis eines männlichen Vormunds. Und eben diese Abhängigkeit von Männern, diese Bevormundung in allen Lebenslagen ließen auch Rahaf Mohammed rebellieren – und es war Taleb Al Abdulmohsen, der ihr bei ihrer Flucht half, aus dem fernen Deutschland via Twitter.
Über Dritte erklärte er ihr, was sie schreiben musste, um das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen auf sich aufmerksam zu machen. „Zeitgleich habe ich andere Menschen im Forum wearesaudis.net beraten“, sagt er. In dem Forum geht es um Themen wie Flucht und neues Leben im Ausland.
Es gebe Zehntausende, die aus gleichen Motiven wie Rahaf Mohammed Saudi-Arabien verlassen würden, sagt Al Abdulmohsen. Die also „unabhängig reisen wollen, eigene Entscheidungen über Bildung, Karriere treffen wollen oder darüber wen und wann ich heiraten sollte“ – so erklärte es Rahaf Mohammed, nachdem sie in Kanada angekommen war.
Aisha mahnt zudem, an die Frauen und Männer zu denken, die inhaftiert seien, aber keine Aufmerksamkeit bekämen, „so wie Loujain Alhathloul“. Alhathloul setzt sich mit anderen Frauen und Männern für mehr Gleichberechtigung ein. Derzeit sei sie wieder in Haft. „Ich möchte, dass sie nicht vergessen wird“, sagt Aisha.