Geflüchtete: Der Traum vom normalen Leben

Dach über dem Kopf, Papiere, Job: In Rom begleitet die Organisation Baobab Experience Geflüchtete in einen legalen Alltag. Die Hürden sind hoch.
Rom - Assan hat Glück gehabt. Er schläft in einem Bett – in einer Altbauwohnung in Rom, nahe dem Bahnhof Termini. Hier lebt er seit sieben Monaten. Assan Adam ist erst 19 Jahre alt und seit fast fünf Jahren seines jungen Lebens allein auf der Flucht. Er war gerade 15, als ihn seine Familie mit dem Gesparten aus dem Sudan auf den Weg nach Europa schickte, um ihn vor Hunger und Bürgerkrieg zu bewahren. Aber dann ging ihm in Libyen das Geld aus und er landete in einem Flüchtlingslager – einem Gefängnis, wie er sagt.
Dort blieb er vier Jahre. „Wir mussten ohne Lohn auf den Feldern der großen Grundbesitzer arbeiten, wie Sklaven“, erzählt er und rückt verlegen seine Brille zurecht. Im Lager bekam er Kontakt zu der Organisation Sarita, die sich um unbegleitete Minderjährige kümmert und ihn schließlich in einen Flug nach Italien setzte – einer der sogenannten humanitären Korridore, die derzeit nur noch von der katholischen Gemeinschaft Sant’Egidio und der Waldenser-Kirche organisiert werden.
In Rom angekommen, bekam Assan einen Schlafplatz in der Wohnung, wo er jetzt mit fünf anderen jungen Afrikanern lebt. Die Räume hat die Organisation Baobab Experience angemietet. Wie der afrikanische Lebensbaum, nach dem es sich nennt, will das Netzwerk ein schützendes Dach bieten.
„Andere Minderjährige kampieren auf der Straße, werden bestohlen, mit Drogen vollgepumpt und zur Prostitution gezwungen“, berichtet Andrea Costa, 55, Mitbegründer und Leiter der privaten Organisation, die sich seit 2015 in Rom um Geflüchtete kümmert und sie mit Essen und Schlafplätzen versorgt. Anfangs gab es noch eine Unterkunft, die wurde jedoch 2016 von der Stadtverwaltung geräumt. Danach zogen die Helferinnen und Helfer mit ihren Schützlingen ins Freie, auf wechselnde und ungenutzte Plätze in der Nähe des bis vor kurzem ziemlich heruntergekommenen Bahnhofs Tiburtina.
Die Polizei räumte die Zeltlager insgesamt etwa 40 Mal
Statt Zimmern gab es Schlafsäcke und Zelte, die Hitze und Kälte kaum abhielten, und im Essenszelt wurden täglich zwei warme Mahlzeiten ausgegeben. Viele Menschen aus der ganzen Stadt unterstützten die Freiwilligen, beförderten Riesentöpfe mit Pasta aus den Kofferräumen ihrer Autos und sammelten Decken, Zelte und Bekleidung. Bars und Bäckereien stifteten Cornetti zum Frühstück.
Doch die Stadtverwaltung wollte die besetzten Plätze nicht tolerieren. Die Polizei räumte die Zeltlager bis vergangenes Jahr insgesamt etwa 40 Mal; die Zelte wurden konfisziert und immer wieder aufgebaut. Fast 100.000 Geflüchtete, die vor allem über die Mittelmeerroute in Italien gelandet waren und weiter in den Norden wollten, wurden im Laufe von sieben Jahren in dem Camp aufgenommen und mit dem Nötigsten versorgt.
Andrea Costa, eigentlich gelernter Glaser, hat dort oft mit ihnen übernachtet. „Viele schreien und weinen im Schlaf, sie haben Schreckliches erlebt“, erzählt er. Und auch, dass es keinen Minderjährigen und keine Frau gebe, die auf dem Fluchtweg nicht vergewaltigt worden seien. Bei mehr als 80 Prozent der 14- bis 17-Jährigen seien deutliche Spuren von Folter zu erkennen – auch wenn sie nicht darüber sprechen möchten.

All das hat ihm zugesetzt. Auch, dass sein Telefon abgehört wurde, um ihn zu kriminalisieren und als Schlepper anzuklagen. Denn viele der Schützlinge von Baobab kommen von den privaten Rettungsschiffen im Mittelmeer, die Politiker wie Matteo Savini von der Lega Nord und andere Vertreter:innen der aktuellen Rechtsregierung ebenfalls beschuldigen, Handlanger krimineller Schleuserorganisationen zu sein. Dabei kamen im vergangenen Jahr nach Angaben des italienischen Innenministeriums auf diesem Weg nur rund 14 Prozent der rund 100.000 Geflüchteten nach Italien. Die meisten Schiffbrüchigen auf dem Mittelmeer werden von der Küstenwache vor dem Ertrinken gerettet oder von den Schleppern vor den Küsten ausgesetzt.
So war dann auch das Ergebnis der Ermittlungen gegen Costa ein eher kleinlautes Verfahren. Er wurde des Vergehens angeklagt, im Jahr 2016 Busfahrkarten für neun Migranten gekauft zu haben, damit sie sicher bis zur französischen Grenze reisen konnten. Im Mai 2022 wurde er mangels strafbaren Tatbestandes freigesprochen. Dass er weitermachen will, ist für Andrea Costa keine Frage. Baobab Experience finanziert sich von Anfang an aus Spenden- und Stiftungsgeldern und stützt sich auf ein weitverzweigtes Netz aus anderen Hilfsorganisationen, Ärzt:innen und direkten Ansprechpartner:innen im Vatikan.
Assan und seine fünf Mitbewohner leben in einem unrenovierten Palazzo aus dem 19. Jahrhundert
Das Zeltlager gibt es seit 2019 allerdings nicht mehr, die ständigen Räumungen haben am Ende alle zermürbt. Das Projekt setzt jetzt einerseits auf die Unterbringung von kleineren Gruppen und Familien in Wohnungen und andererseits auf ein Tageszentrum in einem Gebäude, wo es für Flüchtende auf der Durchreise rechtliche Beratung, warme Decken, medizinische und psychologische Betreuung und ein Abendessen gibt. In der Nähe sollen bald auch Unterkünfte für Frauen und Kinder eingerichtet werden.
Das Gebäude hat die Stadtteilverwaltung zur Verfügung gestellt, wo Costa und seine Leute endlich Ansprechpartner:innen gefunden haben. „Das ist das Mindeste. Die Institutionen sollten froh sein, dass die Zivilgesellschaft ihren Job übernimmt“, kommentiert Costa. Nach den Prinzipien von Baobab genügt es nicht, eine humanere Flucht zu unterstützen. Die Menschen sollten ein Dach über dem Kopf haben und die Möglichkeit, wieder in ein normales Leben zurückzukehren – um nicht zu einer illegalen Existenz gezwungen zu werden. Denn die Illegalität gefährde alle, findet Costa, nicht nur sie selbst, sondern auch die Stabilität der Gesellschaften, die sie nicht integrieren wollen.
Eines der bislang zwei Wohnprojekte, die Ankömmlingen wie Assan ein normales Leben bieten sollen, liegt an der Piazza Vittorio Emanuele II. Es ist das traditionelle Migrantenviertel Roms, wo es bis vor 20 Jahren auch noch afrikanische Läden und Friseursalons gab. Heute ist fast alles in chinesischer Hand, zumindest die Geschäfte. Assan und seine fünf Mitbewohner leben in einem unrenovierten Palazzo aus dem 19. Jahrhundert.

Das Projekt trägt den deutschen Namen „Bauhaus“, denn nach ihrer Fluchterfahrung sollen die Bewohner so weit aufgebaut werden, dass sie wieder auf eigenen Beinen stehen können, Italienisch gelernt, psychische Stabilität und einen Job gefunden haben. „Es gibt keine zeitliche Begrenzung. Sie können bleiben, bis sie selbst überzeugt sind, dass sie bereit sind für das Leben hier“, erklärt Mauro Bifulco, der das Projekt betreut. Das Ziel für alle ist eine reguläre Aufenthaltsgenehmigung, die die meisten erhalten, die über einen humanitären Korridor ankommen.
Im Flur der Wohnung stehen Fahrräder, ein altes Samtsofa und ein PC, den alle benutzen können. Assan sitzt mit zwei Freunden, die zu Besuch gekommen sind, am Küchentisch mit geblümter Wachstuchdecke. Die beiden rauchen, er nicht. Denn er will schließlich Fußballer werden. Er sei auch der beste Koch in der Wohnung, sagen die anderen, allerdings sei sein Essen zu scharf. Alle lachen. Assan möchte in Italien bleiben, würde aber auch überall dorthin gehen, wo er Fußball spielen kann.
Am liebsten würde er aber in sein Land zurück, zu seiner Familie – wie alle, die am Tisch sitzen. Auch Ali Bassole aus Burkina Faso. „Aber auf mich wartet ein Todesurteil“, sagt er. Der 33-Jährige hat sich vor acht Jahren mit dem Motorrad auf die Flucht vor dem Militärregime gemacht und ist dann wie alle anderen in einem libyschen Lager gelandet. Von dort kam er über das Meer und versuchte, sich in Neapel und in Paris durchzuschlagen. In Burkina Faso war er Schneider, hat selbst Modelle entworfen und vier Angestellte beschäftigt.
Auch Parisa Eqbalzada aus Afghanistan trägt die Bilder ihrer Heimat immer mit sich herum
Aber in Europa hat das niemanden interessiert. „Man hat mir nur illegale Jobs im Straßenverkauf angeboten“, erzählt er. Schließlich landete er in Rom und schlief auf der Straße, bis ihm jemand den Kontakt zu den Leuten von Baobab vermittelte. Er konnte in die Wohnung einziehen, in der er sieben Monate lebte und jetzt noch ab und zu auf Besuch kommt. Heute arbeitet Ali regulär als Gärtner, wohnt etwas außerhalb zur Miete und hat sich in Italien eingelebt. „Es ist okay, mir geht es hier gut“, sagt er. Aber die Fotos von dem Hochzeitskleid, das er selbst entworfen und genäht hat, hat er immer auf dem Handy.
Auch Parisa Eqbalzada aus Afghanistan trägt die Bilder ihrer Heimat immer mit sich herum. Es sind ihre eigenen Zeichnungen von den Frauen ihres Landes: Manche tragen die Tracht ihrer Heimatstadt Bamyan, andere die verhasste, vom Taliban-Regime aufgezwungene Burka. Parisa, 19, lebt mit Eltern und Geschwistern und einer anderen afghanischen Familie seit November in der zweiten Mietwohnung von Baobab Experience, an der Piazza Flaminia.
Sie sind mit einem Flug der Waldenser-Kirche aus Pakistan gekommen, wo sie sieben Monate festsaßen. „Wir mussten dort viel bezahlen, um zu überleben“, sagt Parisa. Sie hatten Glück, dass sie Geld hatten. Ihre Mutter war vor der Machtübernahme der Taliban Mitglied der Provinzregierung und hatte in Bamyan eine Schule für Jungen und Mädchen gegründet. Jetzt sind die Türen für Mädchen verschlossen.

Parisa sitzt mit ihrer Schwester Parosto auf dem Bett ihres kleinen gemeinsamen Zimmers, aus dem Fenster schauen sie auf römische Pinien. Pariosto, 18, hat einen Text geschrieben, in dem sie sich wünscht, dass die Mädchen in ihrem Land wieder zur Schule gehen dürfen. Sie möchte Medizin studieren. Parisas Traumberuf ist Journalistin.
Auch Bruder Morteza, 27, hat viele Pläne. Wie seine Schwestern spricht er perfekt Englisch. Gemeinsam mit seiner Frau, die auch in der Wohnung lebt, hat er die Organisation Hasco gegründet, die sich um afghanische Straßenkinder kümmert. Die Leute von Baobab Experience haben ihm den Kontakt zu einem Fotografen vermittelt, mit dem er jetzt manchmal in Rom unterwegs ist, um den Beruf zu erlernen.
„Aber die Mädchen sitzen zu viel zu Hause“, sagt Alice Basiglini, die vorbeigekommen ist, um die Geschwister an den Italienisch- und Fahrradunterricht zu erinnern. Sie ist eine von sieben Freiwilligen, die zum festen Kern von Baobab Experience gehören. Weitere zehn betreuen das Essenszelt, die Kleiderverteilung und andere Aktivitäten.
Mit den Jahren haben sich die Rechts- und Jobberatung zu eigenen Gruppen im Projekt entwickelt. Alice kümmert sich um Kommunikation und Finanzen, und nebenher muss sie auch für sich selbst Geld als Epidemologin verdienen. „Manchmal habe ich schlaflose Nächte, wenn ich daran denke, wie ich die Mieten für die Wohnungen auftreiben soll“, gesteht sie und sagt, dass sie eigentlich zu wenige Leute sind für die viele Arbeit.
Aber es gebe eben auch diese Momente, die sie nie missen wolle: „Wenn jemand zuversichtlich mit seinem Koffer, einer Asylgenehmigung und einem Job die Wohnung verlässt.“ (Michaela Namuth)