Flucht ins Land der Täter

In der Ukraine bangen auch Tausende Holocaustüberlebende um ihr Leben. Manche reisen nach Deutschland aus, andere wollen bleiben.
Am 18. März 2022 haben russische Truppen die ostukrainische Stadt Charkiw bombardiert und dabei ein Mehrfamilienhaus getroffen, in dem Borys Tymofijowytsch Romantschenko lebte. Der 96-Jährige starb in den Trümmern. Romantschenko hatte die Konzentrationslager Buchenwald, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen überlebt.
Die Welt ist bestürzt über die Brutalität, mit der Russland bei seinem Krieg in der Ukraine vorgeht. Es sterben Frauen, Kinder, alte Menschen – unter ihnen sind Holocaustüberlebende.
Viele wollen nun nur noch fort. Zuletzt machte die vom israelischen Rettungsdienst Zaka organisierte Flucht der 100-jährigen Doba Huberhryz Schlagzeilen. Als sie schließlich im sicheren Moldawien ankam, hatte sie Tränen in den Augen. Eine Rückkehr könne sie sich nicht vorstellen, berichtete ein Helfer. „Sie will jetzt nur noch nach Israel.“
Andere wollen trotz des Krieges ihre Heimat nicht verlassen. So berichtet Svetlana Jitomirskaja, Professorin an der Universität von Kalifornien, gegenüber Medien über einen Freund ihres Vaters, den sie zum Verlassen Charkiws bewegen wollte. Doch der 87-Jährige lehnte die Bitte, gemeinsam mit seiner ein Jahr älteren Frau in die USA zu kommen, komplett ab: „Er weigert sich zu gehen, er will nicht wegziehen.“
Und wieder andere suchen und finden ausgerechnet im Land ihrer einstigen Peiniger Schutz. Die 96-jährige Anastasia Gulej ist Überlebende von Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen. In einer privaten Initiative hat sie ihr deutscher Biograf Maik Reichel, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt, aus der Ukraine herausgeholt. Die Kiewerin sagt: „Ich bin erschöpft, aber erleichtert, in Sicherheit bei meinen deutschen Freunden zu sein. Gleichzeitig sind meine Gedanken bei anderen KZ-Überlebenden, die noch immer großes Leid erfahren müssen.“
Das Hilfsnetzwerk für Überlebende der NS-Verfolgung in der Ukraine, das knapp 50 Gedenkstätten, Museen sowie verschiedene Initiativen und Vereine aus der ganzen Bundesrepublik verbindet, schätzt die Zahl der betroffenen Menschen auf insgesamt 42 000. „Ukrainische Überlebende der NS-Verfolgung müssen zum zweiten Mal in ihrem Leben einen furchtbaren Angriffskrieg erleben“, sagt Christine Glauning, Leiterin des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit in Berlin. „Viele sind krank und oft zu schwach, um in die Bunker zu gehen.“
Das Jewish Joint Distribution Committee (JDC), das seit 30 Jahren in 18 regionalen Sozialzentren in der Ukraine jüdische NS-Opfer betreut, arbeitet derzeit für rund 10 000 Frauen und Männer. 6500 von ihnen erhalten fortlaufend häusliche Pflege, fast 600 sind schwerst pflegebedürftig. Mehr als die Hälfte der Betroffenen ist 80 bis 84 Jahre alt, 37 Prozent sind zwischen 85 und 95.
Das Netzwerk in der Ukraine ist durch den Krieg schwer belastet. Die Pflegebedürftigen kommen bei Bombenalarm nicht schnell genug in die Schutzräume. Einige sitzen oder liegen bei geborstenen Scheiben und zerstörten Heizungen tagelang allein in eiskalten Wohnungen. Auch die Pflegekräfte haben neben ihrer Arbeit noch die Sorge um die eigenen Familien, vielerorts gelangen sie wegen der Zerstörungen oder Blockaden nicht mehr zu ihren Patientinnen und Patienten.
„Sie müssen da raus, so schnell wie möglich“, sagt Rüdiger Mahlo. Der 48-Jährige ist Repräsentant der Jewish Claims Conference (JCC) in Deutschland. Die Rettung der Überlebenden begann als Hauruckaktion, in die 15 jüdische Organisationen involviert seien, berichtet er.
Als Fluchtmanager kommt Mahlo kaum noch zum Schlafen: Ambulanzen in der Ukraine, Polen und in Deutschland seien zu organisieren, viele Überlebende seien kaum transportfähig oder hätten keine Pässe. Andere fragen, was aus ihren Haustieren werden soll, wer die Grenzer informiert – und dann macht eine Militäroperation alle Planungen zunichte. „Egal“, sagt Mahlo, „dann fangen wir eben wieder von vorn an. Wichtig ist allein, dass den Menschen geholfen wird.“
Bisher konnte das JDC die Betreuung und Pflege der Überlebenden aufrechterhalten, selbst im fast zerstörten Mariupol. Doch die Lage wird täglich dramatischer, wissen Retter wie Mahlo. Also Flucht ausgerechnet nach Deutschland, ins Land ihrer Verfolger?
Christoph Heubner, Exekutivvizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, sagt: „Ja, es wirkt wie bittere Ironie der Geschichte, dass Deutschland nun zum sicheren Hafen für die Überlebenden wird.“ Allerdings spürten sie schon lange die Aufmerksamkeit für ihre Schicksale und die Hochachtung vieler Deutscher. „Das empfinden viele als Geschenk.“
Dennoch: Israelische Rettungsorganisationen, die mit großem Personalaufwand die rund 600 schwerst Pflegebedürftigen unter den Holocaustüberlebenden täglich in der Ukraine anrufen, geben an, dass nahezu 70 Prozent der Hochbetagten trotz des Krieges in der Ukraine bleiben wollen.
Christoph Heubner vom Auschwitz-Komitee hat dafür eine einfache Erklärung: „Für die meisten Überlebenden war es nach dem Holocaust wichtig, eine Familie aufzubauen. Sie sehen die Familie nun, an ihrem Lebensende, in Gefahr. Darum wollen sie, dass zuerst Enkel und Urenkel in Sicherheit gebracht werden – damit die Familie überlebt.“
Die Flucht mit der Familie ließ manche Überlebende sogar auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz in Polen stranden, weil die dort ansässige Internationale Jugendbegegnungsstätte Flüchtlinge aufnahm.
„Hier begegnen sich Geschichte und Gegenwart“, so Heubner. Die Menschen, die in Auschwitz zwischen 1941 und 1945 gequält und ermordet wurden, seien zwar aus anderen Gründen verfolgt worden als die Ukrainer heute. Aber auch sie hätten ein sicheres Leben in Wohnungen oder Häusern mit nichts als einer Tasche in der Hand verlassen müssen.Wie muss auf solche Menschen Putins Erzählung von der Entnazifizierung der Ukraine wirken?
Anastasia Gulej, die häufig als Zeitzeugin in Deutschland zu Gast gewesen war, spüre Wut, sagt sie: „Ich verfluche Putin, der solches Leid über uns gebracht hat.“
Mithilfe der Claims Conference konnten bislang 66 Überlebende aus der Ukraine nach Deutschland evakuiert werden, sagt Rüdiger Mahlo. Sie werden von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland betreut. Ganz selten sei es, dass jemand angibt, nie einen Fuß auf deutschen Boden setzen zu wollen. Für solche Fälle gibt es den Fluchtpunkt Israel. Manche geben auch andere Gründe zum Bleiben an.
Mahlo berichtet von einem Mitte 80-Jährigen aus Charkiw, der unmittelbar mit Beginn der russischen Invasion eine Waffe beantragt und sie bald darauf auch erhalten habe. „Er sagte uns: Ich kann nicht gehen, ich kämpfe jetzt.“