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Floskeln unerwünscht: Prominente Runde streitet über Grenzen der freien Rede

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Von: Tatjana Coerschulte

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Start in die bundesweite „Woche der Meinungsfreiheit“ am historischen Ort der freien Rede, der Paulskirche in Frankfurt.
Die Podiumsdiskussion am Tag der Pressefreiheit ist der Start zur bundesweiten „Woche der Meinungsfreiheit“. Rund 400 Gäste folgen der Debatte am historischen Ort der freien Rede, der Paulskirche in Frankfurt. © Michael Schick

Auftakt zur Woche der Meinungsfreiheit: Podiumsdiskussion in der Frankfurter Paulskirche setzt sich mit dem Wert der Meinungsfreiheit für die Demokratie auseinander.

Gut, dass Igor Levit da war, sonst wäre der Abend in der Frankfurter Paulskirche zwar sehr harmonisch, aber auch etwas eintönig geworden. Was anderes wäre von einer Diskussion über „Unsere Demokratie und das freie Wort“ sonst zu erwarten gewesen, wenn auf dem Podium die Innenministerin eines der freiesten Länder der Welt, die Bürgermeisterin einer der tolerantesten Städte jenes Landes und ein bekanntermaßen geschliffen-eloquenter Publizist und Philosoph sitzen? Es war dem Widerspruch des Starpianisten Levit zu verdanken, dass Nancy Faeser, Nargess Eskandari-Grünberg und Michel Friedman es am Mittwochabend nicht bei Statements beließen, sondern ins Diskutieren gerieten.

Eingeladen hatten zu der prominenten, von der Journalistin Shila Behjat moderierten Runde der Frankfurter Magistrat und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Das Podium, das rund 400 Gäste verfolgten, eröffnete am Tag der Pressefreiheit die Woche der Meinungsfreiheit, die bis zum 10. Mai bundesweit begangen wird.

Starpianist Levit setzt nach gut einer Stunde den Kontrapunkt

Levit, 36 Jahre alt und jüdischen Glaubens, setzte nach gut 60 Minuten den Kontrapunkt des Abends, indem er Bürgermeisterin Eskandari-Grünberg entschieden widersprach. Sie hatte in ihrer Begrüßung festgestellt: „Hier ist kein Platz für Rassismus, hier ist kein Platz für Antisemitismus.“ Das könne er nicht mehr hören, weder in solchen Runden noch im Fernsehen, entgegnete Levit, „mein Alltag sagt mir was anderes, auf der Straße und online“. Für Antisemitismus gebe es in diesem Land sogar ziemlich viel Platz, und wenn jemand das Gegenteil behaupte, fühle er sich nicht ernst genommen.

Dem stimmte Michel Friedman zu. Der frühere Vizevorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland kritisierte das oft zitierte „Wehret den Anfängen“ als Floskel. „Wir sind nicht bei den Anfängen, wir sind mittendrin“, sagte der Publizist und Jurist. So weit habe es kommen können, „weil wir die Sprache zugelassen haben“. Friedman betonte die Bedeutung des Streits, des Widerspruchs. Man müsse aushalten können, dass jemand die Welt anders sieht, sagte er. „Reden, streiten, widersprechen, das ist das, was wir Diskurs nennen.“ Allerdings gebe es die Unkultur, dass Worte für das „Überstülpen von Herrschaft“ gebraucht werden, und diese Unkultur komme meistens von rechts. Sie erzeuge Angst, die einen offenen Diskurs ersticke. An der Unkultur von rechts allerdings gehe die Demokratie nicht kaputt, stellte Friedman fest: „Kaputt geht sie an den 85 Prozent, die nicht widersprechen, die zu gelangweilt sind oder nicht bereit, sich in die Demokratie einzubringen.“

Boris Palmer dürfe alles sagen, aber es dürfe nicht unwidersprochen bleiben, sagt Michel Friedman

Das bezog Friedman auch auf den Eklat um den Tübinger Oberbürgermeister und Ex-Grünen Boris Palmer, der bei einer Veranstaltung der Uni in Frankfurt mit Absicht das „N-Wort“ benutzt hatte. Eine Professorin dürfe einladen, wen sie wolle, und Palmer dürfe sagen, was er wolle, meinte Friedman. Aber es dürfe nicht sein, dass Palmer nicht sofort sehr aktiv entgegengetreten werde, „und zwar so, dass die Würde desjenigen, der das ,N-Wort‘ gesagt hat, nicht verletzt wird“.

Einen weiteren Grenzgänger der Meinungsfreiheit sprach Eskandari-Grünberg an, als sie das von der Stadt Frankfurt erlassene und von Gerichten wieder kassierte Auftrittsverbot für den Musiker und BDS-Unterstützer Roger Waters rechtfertigte. „Wir müssen daran arbeiten, dass Rassismus und Antisemitismus bei uns nicht stattfinden. Das ist mein Anspruch an meine politische Arbeit“, sagte sie - und reizte damit wieder Levit zur Gegenrede. Er hielt ihr vor: „Was Sie sagen, entspricht nicht der Realität!“ Sie erwiderte daraufhin: „Demokratie ist kein Zweck, sondern ein Prozess, ein Weg.“

Eskandari-Grünberg lenkt den Blick auf Länder, in denen eine abweichende Meinung Gefängnis bedeutet

Die Bürgermeisterin weitete in der Debatte mehrfach das Blickfeld auf Länder, in denen Meinungs- und Pressefreiheit nicht gelten wie in ihrem Geburtsland Iran und in Afghanistan. Sie forderte Solidarität mit den Menschen, die dort gegen Unterdrückung aufstehen.

Auf die Frage von Moderatorin Behjat nach der Wehrhaftigkeit gegen den Rechtsextremismus, der Walter Lübcke und neun Menschen in Hanau das Leben kostete, antwortete Innenministerin Faeser, dass der Staat sehr wohl tätig werde und der Kampf gegen Rechtsextremismus ihr erklärtes Ziel sei. „Aber Gesetze reichen nicht. Es braucht die Zivilcourage jedes Einzelnen.“ Gegen einen Anschlag wie in Hanau etwa müsse die Gesellschaft insgesamt aufstehen.

Dass das nicht unbedingt immer bequem ist, verdeutlichte Friedman: Man müsse für eine Widerrede nicht mutig sein, sondern nur bereit, auch mal ohne Friede, Freude, Eierkuchen nach Hause zu gehen. „Es hilft nichts“, sagte er, „entweder streiten wir, oder wir werden wieder verantwortlich.“

Nancy Faeser, Nargess Eskandari-Grünberg, Igor Levit und Michel Friedman (v.l.) auf dem Podium.
Nancy Faeser, Nargess Eskandari-Grünberg, Igor Levit und Michel Friedman (v.l.) auf dem Podium. © Michael Schick

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