Festnahme eines US-Journalisten: Ein klares Signal Russlands an den Westen
Nach der Festnahme eines US-Journalisten fürchtet die Medienwelt einen Präzedenzfall.
Er habe einen niedergeschlagenen Eindruck gemacht, als er am Donnerstag mit verschwitzten Gesicht und in Handfesseln aus dem Haftrichtersaal abgeführt wurde, erzählt die russische Gerichtsreporterin Maria Lokotezkaja, die Evan Gershkovich kurz zu Gesicht bekam. Gershkovich, Korrespondent des „Wall Street Journal“, ist am Mittwoch in Jekaterinburg vom russischen Staatssicherheitsdienst FSB als mutmaßlicher Spion festgenommen worden. Nun wartet er für zunächst zwei Monate im Moskauer Gefängnis Lefortowo auf seinen Prozess. Ihm drohen bis zu 20 Jahren Haft.
Der 32-Jährige wuchs in New York in einer russisch-jüdischen Emigrantenfamilie auf, der Vater kam aus Moskau, die Mutter aus Odessa. Er arbeitet seit sechs Jahren als Korrespondent in Russland, wechselte im Januar von der Nachrichtenagentur AFP zum „Wall Street Journal“. Er ist ein Vertreter der neuen Generation westlicher Moskau-Korrespondent:innen, für die Russisch Muttersprache ist. Kolleginnen und Kollegen beschreiben ihn als energiegeladenen Reporter, der aber ein tiefes emotionales Verhältnis zur Heimat seiner Eltern besaß. „Es gibt kaum einen anderen ausländischen Journalisten, der so viel Liebe und Verständnis für Russland empfindet“, sagt seine BBC-Kollegin Jelisaweta Focht.

Auch die Recherche in Jekaterinburg, die mit seiner Festnahme endete, betrieb er mit Bienenfleiß. Der Exiljournalist Dmitri Kolesjow, der früher in Jekaterinburg lebte, schreibt auf Telegram, Gershkovich habe ihn unter anderem um die Telefonnummern der Leiter des liberalen Jelzin-Zentrums in Jekaterinburg und der Firma „Sima-Land“, die patriotische Aktionen organisiert, gebeten. Nach Angaben anderer Quellen wollte sich der US-Amerikaner auch mit dem demokratisch gesonnenen Exbürgermeister Jewgeni Roisman treffen, interessierte sich aber vor allem für die Werbe-Aktivitäten, aber auch den Ruf der Söldner-Truppe-Wagner in Jekaterinburg und Umgebung. Offenbar ging es Gershkovich um ein Gesamtbild der Stimmung in der Rüstungsregion nach über 14 Monaten „Spezialoperation“.
Laut Kolesjow hatte er auch vor, Rüstungsarbeiter vor ihren Fabriktoren um ihre Meinung zum Geschehen in der Ukraine zu befragen. Aber es ist zweifelhaft, ob er von ihnen technische Geheiminformationen bekommen wollte, wie es ihm der FSB vorwirft. Das gilt wohl auch für die Fragen, die er laut der Agentur TASS Wjatscheslaw Wegner, einem Regionalparlamentarier der Staatspartei Einiges Russland gestellt hatte: Ob die Kader der Swerdlowsker Rüstungsbetriebe ausreichten und in wie viel Schichten sie arbeiteten. Die große Mehrzahl der russischen und ausländischen Kolleg:innen Gershkovichs glaubt, solch allgemeine journalistische Fragen seien nicht Grund sondern Anlass gewesen, Gershkovich als ersten ausländischen Korrespondenten seit 1986 festzunehmen.
Vergangenen März wurden in Russland Zensurgesetze erlassen, die schon mehrere russische Journalistinnen und Journalisten wegen der Verbreitung falscher oder diskreditierender Informationen über die russische „Spezialoperation“ ins Gefängnis brachten. Auch in Korrespondentenkreisen rechnete man damit, dass sie auf ausländische Journalist:innen angewandt werden könnten. Statt dessen gibt es nun den Spionagefall Evan Gershkovich.
Dahinter vermuten die meisten russischen und westlichen Russland-Journalist:innen den Zweck, ihn später gegen kremlnahe Häftlinge im Westen einzulösen. Es gibt schon mehrere Tauschkandidat:innen. Eine Ausweisung russischer Diplomaten oder Journalisten sei nicht geplant, teilte allerdings am Freitag US-Präsident Joe Biden höchstpersönlich und forderte im Fall Gershkovich: „Lassen Sie ihn gehen!“ Beobachter:innen befürchten, dass weitere westliche Reporter:innen in russische Geiselhaft geraten könnten. „Sie haben einen Präzedenzfall geschaffen“, sagt der Politologe Alexander Gabujew. (mit dpa)