Expertin zur Lage im Iran: „Regime sitzt auf einem Pulverfass“

Die Iran-Expertin Chowra Makaremi über die Proteste im Land, die derzeit neue Formen annehmen. Ein Interview von Sereina Donatsch.
Frau Makaremi, nachdem die Straßenproteste im Iran nachgelassen hatten, gab es vergangene Woche wieder Demonstrationen, wie ist das zu interpretieren?
Es ist üblich, dass nach der traditionellen Trauerzeit von 40 Tagen um hingerichtete Demonstrant:innen – diesmal Mohammed Mahdi Karami und Sejed Mohammed Hosseini, die im Januar vom Regime getötet worden sind – Oppositionelle auf die Straße ziehen. Meiner Meinung nach handelt es sich um ein isoliertes Phänomen, einen extrem sporadischen und punktuellen Protest. Ein Aufstand nach einem bestimmten Ereignis. Außer im Belutschistan, im Südosten des Landes, wo weiterhin freitags Tausende Menschen auf die Straße gehen, sind die Demonstrationen in den letzten Wochen im Iran seltener geworden. Die Mobilisierung ist immer noch vorhanden, aber sie nimmt aufgrund gewaltsamer Repression andere Formen an.
Welche Formen sind das zum Beispiel?
In Teheran hallen abends Slogans über Dächer gegen den Revolutionsführer Ayatollah Khamenei. Frauen weigern sich, den Schleier zu tragen. All das wäre noch vor ein paar Monaten unvorstellbar gewesen. Die Tiefe der Anfechtung ist so groß, dass die Protestwelle weitergeht, sich jedoch auf andere Arten äußert, wie auch die Streikbewegung gezeigt hat. Sie betraf vor allem Geschäfte und Basare, aber sie hat auch in anderen Branchen stattgefunden und wurde extrem niedergeschlagen. 200 Personen wurden zum Beispiel am ersten Streiktag im petrochemischen Sektor verhaftet.
Warum kommen die Straßenproteste im Belutschistan nicht zum Erliegen?
Da ist die Situation anders. Die Proteste bringen staatliche Gewalt und strukturelle Missstände gegen die ethnische Minderheit dort hervor, die sich über Jahre hinweg angesammelt haben. In diesem Kontext hat sich ein Anführer herausgebildet. Jeden Freitag fordert Mawlana Abdulhamid, ein sunnitischer Freitagsprediger der Makki-Moschee in Zahedan, das Ende der Repression, die Reform des Systems und Gerechtigkeit für die getöteten Demonstrant:innen vom 30. September 2022. An diesem Tag feuerten iranische Sicherheitskräfte willkürlich von Dächern in die Menge der Protestierenden und richteten ein Massaker an. Dieses Datum geht im Iran als „blutiger Freitag“ in die Geschichte ein. Seither verlangt der Imam Gerechtigkeit für die Opfer. Es ist bemerkenswert, dass die Proteste friedlich bleiben, obwohl die Oppositionellen an der afghanisch-pakistanischen Grenze Zugang zu Waffen haben und ein absoluter Terror herrscht. Das Regime will, dass die Situation eskaliert und die friedliche Bewegung in bewaffnete Kämpfe abrutscht. Das wissen die Protestierenden. Der Staat könnte dann seine Unterdrückung vollständig militarisieren und einen „internen Krieg“ entstehen lassen.
Zur Person
Chowra Makaremi arbeitet am Forschungsinstitut CNRS in Paris. Die französisch-iranische Anthropologin beschäftigt sich viel mit dem Iran. Sie ist Autorin des Buches „Le cahier d’Aziz: au cœur de la révolution iranienne“ und Regisseurin der Doku „Hitch, une histoire iranienne“. sd Guerci

Wie erklären Sie generell diese Widerstandskraft im Land?
Die Entschlossenheit der Protestierenden ist beispiellos. Das Aufbegehren ist tief verwurzelt und laut einer Studie lehnt heute über 80 Prozent aller Menschen im Land das Regime ab. Das ist historisch. Das iranische Volk will den Sturz des Regimes und nicht das Ende der Sittenpolizei, der Kopftuchpflicht oder eine Amnestie für Tausende Gefangene, die im Gegenzug schriftlich versprechen müssen, nicht mehr zu demonstrieren. Das sind Kommunikationsstrategien, Beschwichtigungsversuche, um die Bevölkerung und westliche Länder milde zu stimmen. Was bei uns als fortschrittlich gesehen wird, ist für den Staat eine Art, seine Macht zu erhalten. Der Staat hantiert mit Zuckerbrot und Peitsche. Er exekutiert, aber lässt bestimmte Figuren des Widerstands frei. Er versucht, seine Herrschaft über die Gesellschaft durch eine Ökonomie der Grausamkeit und des Wohlwollens zurückzuerlangen: die übliche Taktik. Sie kommt jedoch bei der Bevölkerung nicht mehr an. Der Pakt zwischen Staat und Gesellschaft ist gebrochen.
Kann das iranische Regime gestürzt werden?
Es ist geschwächt und steht mit dem Rücken zur Wand. Es kann eigentlich nicht anders sein. Es hat mit einer Nachfolgekrise zu kämpfen. Der oberste Führer des Landes, Ajatollah Ali Chamenei, ist 83 Jahre alt und es gibt interne Kämpfe um seine Nachfolge. Diesbezüglich ist alles ungewiss. Klar ist aber, dass seit den letzten Wahlen in 2021 die Scheinrepublik an Legitimität verloren hat. Die Ausschaltung aller potenziellen Rivalen des ultrakonservativen Kandidaten und aktuellen Präsidenten Ebrahim Raisi hat die Bevölkerung desillusioniert. Die Wahlenthaltung war historisch. Mit dem Krieg in der Ukraine kommt ein fragiles internationales Umfeld hinzu. Das Land ist isoliert. Schließlich sieht sich das Land mit einer Wirtschaftskrise konfrontiert. Die Inflation erreicht 50 Prozent und die Regierung lässt die Landeswährung abstürzen. Kurzfristig ist es für den Staat interessant, weil er die Gehälter in Toman zahlt, aber langfristig vertieft er somit die Wirtschaftskrise. Das Regime sitzt auf einem Pulverfass.
Interview: Sereina Donatsch