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Ex-Ministerin Tzipi Livni über die Proteste in Israel: „Ich bin froh über diesen Clash“

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Von: Maria Sterkl

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Tzipi Livni im Jahr 2016 bei einer Gedenkveranstaltung für eine 16-Jährige, die auf einer Demonstration für LGBTQ-Rechte von einem Ultra-Orthodoxen ermordet wurde.
Tzipi Livni im Jahr 2016 bei einer Gedenkveranstaltung für eine 16-Jährige, die auf einer Demonstration für LGBTQ-Rechte von einem Ultra-Orthodoxen ermordet wurde. © imago/ZUMA Press

Die frühere Vize-Premierministerin über unterschiedliche Vorstellungen vom Land und warum sie die Proteste positiv sieht.

Frau Livni, hätten Sie sich je vorstellen können, dass es in Israel Massenproteste für die Unabhängigkeit der Justiz geben würde?

Es geht dabei um mehr als nur die Justiz. Es geht um Israels Identität. Mir wurde schon auf der ersten großen Demonstration in Tel Aviv klar, dass es hier einen gewaltigen Sinneswandel gibt: Es hat stark geregnet an dem Abend, normalerweise verstecken sich die Israelis da in ihren Wohnungen. Aber an jenem Abend kamen sie, schwangen total durchnässt ihre Fahnen. Das war etwas Neues. Nach fünf Wahlen, bei denen sich alles darum gedreht hat, ob man für oder gegen Benjamin Netanjahu ist, ging es plötzlich um so viel mehr.

Weil es diesmal nicht nur Netanjahu ist, sondern eine Koalition mit Rechtsextremen?

Schon in den Koalitionsverhandlungen haben wir gesehen: Netanjahu gibt den Extremisten alles, was sie wollen. Wir haben da die Ultraorthodoxen, die gegen Frauenrechte sind und die ihre Rabbiner als oberste Instanz ansehen, und nicht das Höchstgericht. Den Religiösen Zionisten wiederum passt es nicht, dass der Oberste Gerichtshof etwas mitzureden hat bei den illegalen Dingen, die sie im Westjordanland tun. Und an der Spitze haben wir einen Ministerpräsidenten, der die Justiz delegitimieren will, weil sie einen Prozess gegen ihn führt. Als dann auch noch der Justizminister seinen Plan (zur umstrittenen Justizreform, Anm. d. Red. ) verkündete, schrieb ich am Morgen danach auf Twitter, dass ich am Samstag um 19 Uhr am Habima-Platz in Tel Aviv stehen werde. Und das war die erste Demo.

Hat die Protestbewegung gewonnen? Die Justizreform ist jetzt einmal ausgesetzt.

Es ist klar, dass wir Grenzen gesetzt haben. Wohin das führen wird – keine Ahnung. Aber die Regierung hat verstanden, dass sie nicht tun kann, was sie will. Dass sie Israels demokratische Identität nicht einfach verändern kann.

Das setzt voraus, dass die Protestbewegung auch weiterhin nicht nachlässt.

Ich glaube, wir erleben gerade die Geburt eines neuen liberalen Lagers in Israel. Die Demonstranten halten die israelische Flagge hoch und sagen: Das ist auch unsere Fahne, nicht nur eure. Wir sind Zionisten, Israelis, Juden – und wir glauben an Gleichberechtigung. All diese Leute, die von den Rechten monatelang als Verräter, Terrorunterstützer, Handlanger des Feindes beschimpft wurden, sind jetzt stolz, Teil dieses Lagers zu sein. Man kann nicht überschätzen, wie wichtig das ist.

Was genau ist der Klebstoff, der die Protestbewegung zusammenhält? Wir wissen, wogegen sie auftritt – gegen das Abgleiten Israels in autoritäre Zustände. Wofür sie kämpft, ist diffus.

Das sehe ich anders. Wissen Sie, meine letzte Wahlkampagne vor meinem Ausscheiden aus der Politik hatte zwei zentrale Themen: Rettung der Demokratie und eine Konfliktlösung mit den Palästinensern. Ich musste feststellen, dass es dafür keinen Rückhalt in der Bevölkerung gab. Alle sagten: Wovon redest du? Natürlich ist Israel eine Demokratie und bleibt es auch! Heute ist das anders. Heute halten die Leute die Unabhängigkeitserklärung hoch und fordern gleiche Rechte für alle.

Trotzdem: Die unterschiedlichen Gruppen, die für Demokratie protestieren, verstehen darunter vielleicht ganz verschiedene Dinge.

Klar ist, was die Regierung unter Demokratie versteht: die Herrschaft der Mehrheit. Unsere Antwort ist: Demokratie bedeutet, dass die Macht der Mehrheit beschränkt wird. Diese Schranken sind Menschenrechte, Bürgerrechte, Minderheitenrechte. Die Regierung sagt: „Man hat uns gewählt, also können wir tun was wir wollen.“ Wir sagen: Nein, das könnt ihr nicht. Demokratische Wahlen geben der Mehrheit eine Art Führerschein. Die Regierung kann sich aussuchen, auf welcher Straße sie fährt. Sie kann aber nicht einfach alle Verkehrszeichen abmontieren und ohne jede Beschränkung drauf losfahren.

Um in Ihrem Bild zu bleiben: Viele Anhänger:innen von Benjamin Netanjahu sagen aber, dass die Verkehrszeichen von einer abgehobenen Elite aufgestellt wurden, dass die Zeit reif sei für neue Verkehrsregeln. Woher kommt dieses Misstrauen gegenüber der Justiz?

Israel hat keine Verfassung. Das Höchstgericht hat daher die Regierungen gezwungen, bestimmte Grundrechte zu respektieren – gleiche Rechte für Frauen zum Beispiel. Der Gerichtshof hat der Armee aufgetragen, Frauen als Kampfpilotinnen zuzulassen, gegen den Willen der Armeeführung. Die Ultraorthodoxen wollten Frauen zwingen, im Bus hinten zu sitzen – und das Höchstgericht sagte nein. Die heutige Koalition findet, dass der Gerichtshof es zu weit treibt mit der Menschenwürde.

Könnte man sagen, Israel leide heute an den Kinderkrankheiten, die nicht rechtzeitig behandelt wurden?

Ach hören Sie auf, wir sind 75 Jahre alt (lacht). Es ist aber so, dass bestimmte Dinge, die uns bei der Staatsgründung offensichtlich erschienen, heute nicht mehr so selbstverständlich sind. Alle Fraktionen haben damals, im Jahr 1948, die Unahbhängigkeitserklärung unterschrieben. Darin sind gleiche Rechte verankert. Okay, das Wort Demokratie kommt in der Deklaration nicht vor, aber Gleichheit und Freiheit sehr wohl – also das, was eine Demokratie ausmacht. Die Religiösen haben aber zunehmend das Jüdische am jüdischen Staat als etwas Religiöses interpretiert, nicht als etwas Kulturelles. Sie verlangen, dass die Religion über allem steht – auch über Freiheit und demokratischen Grundrechten. Dieser Konflikt war immer da.

Zur Person

Tzipi Livni (64) ist die ehemalige Außenministerin (2006-2009) und Justizministerin (2006-2007) Israels. Sie gehörte mehreren Regierungen von Benjamin Netanjahu an. Im Jahr 2019 zog sie wegen schlechter Umfragewerte aus der Politik zurück und trat nicht nochmal bei den Wahlen an.

Heute ist Livni eine der führenden Figuren der Antiregierungsbewegung in Israel. mst/FR

Der Konflikt war immer da, wurde aber nicht angesprochen?

Ja, es wurde nicht darüber diskutiert, schließlich hatten wir unsere eigenen Probleme – Krieg, Terror, vieles mehr. Zugleich hat sich Israel aber auch zu einer starken Wirtschaft entwickelt und das Gemeinsame in den Vordergrund gestellt.

Heute dagegen sprechen manche von einem drohenden Bürgerkrieg.

Es ist ein Clash daraus geworden, und ich bin froh darüber. Ich bevorzuge eine ehrliche Debatte, anstatt in einem Auto zu sitzen und einfach unbemerkt an einen Ort gefahren zu werden, in dem wir uns nicht mehr wieder erkennen. All die Dinge, die unter den Teppich gekehrt wurden, kommen jetzt an die Luft.

Hat es also etwas Gutes, dass die Regierung diesen Clash provoziert hat?

Sie hat alle Pläne auf den Tisch gelegt, darüber bin ich froh. Sie hätten auch Gesetz um Gesetz nacheinander durchbringen können. Ich bin nicht sicher, ob das den Leuten aufgefallen wäre. Da es aber so brutal war, wurde klar, was auf dem Spiel steht.

Was weniger klar diskutiert wird, ist die Frage der Besatzung und der Palästinenser.

Stimmt, das ist nicht auf dem Tisch. Ich habe das auch in meiner letzten Demo-Ansprache gesagt: Wenn Israel seine demokratische Identität behalten will, geht das nur über einen Frieden mit den Palästinenser:innen. Ich hoffe, dass sich dieses Verständnis durchsetzt. Wir müssen das Land untereinander aufteilen, um einen jüdischen, demokratischen Staat behalten zu können – wenn vielleicht auch auf kleinerem Territorium. Wenn wir das Westjordanland annektieren und einen einzigen Staat von Jordan bis Mittelmeer schaffen, dann werden unsere Enkelkinder sich entscheiden müssen: entweder jüdisch, oder demokratisch.

Was macht Sie optimistisch, dass dieses neue liberale Lager, von dem Sie sprechen, sich auch um eine Friedenslösung mit den Palästinenser:innen bemühen wird? Die Realität geht in eine andere Richtung – noch mehr Siedlungen, noch mehr Gewalt.

Sagen wir so: Vor der Wahl war mir klar, wohin das führen wird. Am Tag nach der Wahl war ich deprimiert, weil ich wusste: Sie führen uns ganz klar in eine Ein-Staaten-Realität, sie zerstören unsere Demokratie, und keiner wird es bemerken. Heute sage ich: Die Leute bemerken es sehr wohl, und sie kämpfen. Daher bin ich optimistisch. Das Verständnis, dass man dafür auch den israelisch-palästinensischen Konflikt mitdenken muss, wird hoffentlich der nächste Schritt sein.

Israels demografische Entwicklung führt das Land hin zu einer stärker religiös, konservativ geprägten Gesellschaft. Ergibt sich daraus nicht automatisch eine gewisse politische Stoßrichtung für künftige Generationen?

Ich bin in ein Likud-Umfeld hineingeboren. Es gibt auch moderate Rechtswähler:innen. Ich hoffe, sie verstehen, dass Extremismus uns keine Sicherheit gibt. Die Extremist:innen halten die Streichhölzer, während wir auf einem Pulverfass sitzen.

Soll Israel eine Verfassung bekommen?

Man muss das Rad nicht neu erfinden. Wir haben die Unabhängigkeitserklärung von 1948. Alle Rechte stehen da drin – freie Meinungsäußerung, Religionsfreiheit, et cetera. Mein Vorschlag ist: Machen wir diesen Teil der Deklaration doch zum Grundgesetz. Das wird dann unsere Verfassung sein.

Werden dann auch israelische Araber:innen die gleichen Rechte haben?

Ich glaube, dass es möglich ist, in einem jüdischen Staat auch Gleichheit für Araber:innen zu haben. Die Frontlinie verläuft nicht zwischen denen, die Israel jüdisch, aber nicht demokratisch haben wollen, und denen, die Israel demokratisch, aber nicht jüdisch haben wollen. Es ist vielmehr ein Kampf zwischen denen, die Israel als jüdischen, demokratischen Staat sehen und denen, die unsere demokratischen Werte aufweichen wollen und Jüdischkeit als etwas rein Religiöses sehen. Das ist die wahre Spaltung.

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