Der Westen lernt nicht dazu: „Europa muss den hybriden Krieg denken“

Der französische Geheimdienstexperte Christian Harbulot über russische Industriespionage, Cyberattacken und die Schwerfälligkeit des Westens, zu verstehen, wie Putin agiert.
Herr Harbulot, Ihre „Schule für Wirtschaftskrieg“ trägt einen martialischen Namen. Bilden Sie dort wirklich Agentinnen und Agenten aus?
Nicht nur. Die Schule widmet sich generell der Informationsbeschaffung durch die Akteure des weltwirtschaftlichen Kräftemessens. Aber es stimmt: Seit September letzten Jahres bieten wir erstmals einen Abschluss in Sachen Nachrichten- und Geheimdienst an.
Geschah das unter dem Einfluss des Ukraine-Krieges, der damals schon ein halbes Jahr dauerte?
Zum Teil zeigt doch der Ukraine-Krieg die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Ansatzes auf – nicht nur militärisch, sondern auch mit Fragen rund um Open-Source-Management, Informationsbeschaffung oder Kommunikation.
Ukraine-Krieg: Chinesischer Spionageballon
Was erzählt man sich in Ihrer Branche über den chinesischen Spionageballon?
Das ist zuerst eine politische Sache. Die Amerikaner konnten dieses Gerät nicht gut weiterfliegen lassen, das wäre ein Zeichen der Schwäche gewesen. Vielleicht wollten die Chinesen die US-Reaktion testen. Die Kommunikation Pekings war allerdings nicht gerade überzeugend.
Und die Sprengung der Pipeline Nord Stream 2?
Das ist doppelt interessant – was die Konsequenzen wie auch die Urheberschaft betrifft. Sie ist immer noch nicht bekannt, auch wenn es leicht fällt, die Nutznießer und die Leidtragenden zu benennen.
Ukraine-Krieg: Energie als Waffe, der Westen blieb opportunistisch
Als da wären?
Benachteiligt wurden durch diese Sabotage sicher die Deutschen und die Russen. Ebenso logisch scheint, dass die Amerikaner eher einen Nutzen daraus ziehen.
Waren die deutschen Geheimdienste nicht jahrelang blind für den Umstand, dass Moskau die Energielieferungen schließlich als Waffe einsetzte?
Ich würde weniger von Blindheit sprechen als von Opportunismus. Die deutsche Wirtschaft profitierte jahrelang von sehr interessanten Gaspreisen. Dafür verschloss man in Berlin die Augen vor den geopolitischen Aspekten, namentlich dem Kräfteverhältnis zwischen Russen und Deutschen.

Ukraine-Krieg: Leidet Russland unter Sanktionen?
Leidet die russische Wirtschaft unter dem westlichen Druck und den Sanktionen?
Das ist eine zentrale Frage. Indem der Westen weniger russisches Gas kauft, schwächt er das Putin-Regime zweifellos. Doch Moskau findet in Asien neue Abnehmer, was den westlichen Druck reduziert. Vor allem aber übersieht man im Westen das Wesentliche: Der militärisch-industrielle Sektor Russlands, das Hauptwerkzeug des russischen Imperialismus, wahrt seine Stärke. Auch unter Wladimir Putin.
Er hat die Armee und den Rüstungssektor seines Landes von Grund auf reformiert. Für die amerikanische Denkschule ist Russland bloß eine heruntergekommene Industrienation mit einem schwachen Bruttoinlandprodukt. Das ist aber in diesem Krieg nur die halbe Wahrheit. Der militärisch-industrielle Komplex bleibt solide. Und das nicht zuletzt dank jahrelangen Ausspionierens – ja, Plünderung westlicher Technologien.
Ukraine-Krieg: Westen Industriespionage teilweis enicht einmal
Plünderung, sagen Sie?
Jawohl. Im Westen ist man sich zu wenig bewusst, wie umfangreich diese Industriespionage war und wohl auch bleibt. In Paris wachte man nur einmal auf, als der französische Geheimdienst DST in der sogenannten Farewell-Affäre einen sowjetischen Agenten enttarnte und bei ihm Zehntausende sensibler Dokumente fand. Abgesehen von solchen Ausnahmefällen hat der Westen nicht einmal gemerkt, wie massiv seine Militärindustrie geplündert wurde.
Wie steht es heute um den russischen Geheimdienst, Putins früheren Arbeitgeber?
Der Inlandsgeheimdienst, heute FSB, ist so aktiv und offensiv wie früher der KGB vorab im Bereich der politischen Polizei. Auch der Auslandgeheimdienst SVR bewegt sich in der Spur des KGB.
Ukraine-Krieg: Russland lernt aus Verlusten– lernt auch der Westen dazu?
Können die Sanktionen den Kriegsverlauf beeinflussen?
Solange wir uns auf dem Niveau eines klassischen Krieges bewegen, nützen diese Sanktionen nicht viel. Anders, wenn einmal Spitzentechnologien wie etwa im Raketenbereich zum Einsatz kommen sollten. Dort hat die russische Armee Lücken. Momentan zählt aber eher die Masse. Die Russen mobilisieren Soldaten und altes Material, wobei sie gewaltige Verluste in Kauf nehmen. Das können die Sanktionen nicht verhindern.
Die Ukraine erhält wertvolle Informationen durch die US-amerikanischen und britischen Nachrichtendienste. Kann das kriegsentscheidend sein?
In der ersten Kriegsphase war dieser Vorsprung den Ukrainern sehr nützlich: Sie vereitelten damit den russischen Blitzangriff auf Kiew. Die Frage ist allerdings, ob die Hilfe der angelsächsischen Nachrichtendienste in der zweiten Kriegsphase ebenso wirksam sein wird, wenn eine neue russische Dampfwalze über die Ukraine rollen wird. So dilettantisch die Russen zu Beginn agierten, haben sie in der Geschichte doch bewiesen, dass sie fähig sind, noch während eines laufenden Krieges aus ihren Fehlern zu lernen. So im russisch-japanischen Krieg von 1904 und auch im Zweiten Weltkrieg.
Ukraine-Krieg: Westen hat Nachholbedarf bei Informationskrieg und Propaganda?
In Sachen Desinformation und Propaganda hat Russland auch eine lange Tradition ...
Putin führt einen hybriden Krieg – militärisch gegen die Ukraine, propagandistisch gegen den Westen. Moskau suggeriert über alle Kanäle, die Amerikaner profitierten wirtschaftspolitisch vom Krieg, Europa werde hingegen geschwächt. Das soll den Westen spalten. Und offensichtlich findet der Westen keine Antwort. Selbst zu den russischen Kriegsverbrechen lanciert die demokratische Welt keine nachhaltige und internationale Informationskampagne.
Dabei sind diese Akte belegt und dokumentiert. Ich verstehe etwas nicht: Warum schlachtet der Westen Putins Kriegsverbrechen nicht aus? Denn am Schluss werden diese Untaten für viele Erdenbürger zu einem Nichtereignis oder zumindest angezweifelt. Das nützt nur den russischen Interessen.
Ukraine: USA und Europa beschränken sich auf militärische Aspekte des hybriden Kriegs
In Afrika, Südamerika und Asien werden heute Putin-Fähnchen geschwenkt.
Das ist auch der Fehler der Amerikaner. Ihre Medien, Nachrichtendienste und Meinungsmacher beschränken sich auf den militärischen Aspekt in der Ukraine. Dort, wo sie durch die russische Desinformation direkt angegriffen werden, kontern sie nicht ausreichend.

Auch im Sahelgebiet wendet sich die Volksmeinung Russland zu, sogar seinen „Wagner“-Söldnern. Hat Paris nichts entgegenzusetzen?
Ich zweifle, ob unsere Armeelenker verstanden haben, was es heißt, einen hybriden Krieg zu führen. Die meisten Generalstäbe westlicher Länder beschränken sich auf ihre klassischen militärischen Aufgaben. Gegenpropaganda oder Cyberattacken beherrschen sie nicht. Frankreich verliert auf diese Weise Länder wie Mali, Burkina Faso. Das ist gravierend.
Ukraine-Krieg: Hybride Kriege kann der Westen nicht
Wo liegt das Problem?
In vielen westlichen Armeen ist das militärische mittlere Management – bis auf Regimentsebene – unfähig zur hybriden Kriegsführung. Israel beging im Libanonkrieg 2006 den gleichen Fehler gegen die Hisbollah-Milizen: Zahal (die israelische Armee, die Red.) war ihnen zwar militärisch überlegen, verlor aber den Informationskrieg gegen die Hisbollah. Seither haben die Israeli viel gelernt. Anders als wir im Westen.
Frankreich hat aber immerhin Sender wie „Russia Today“ und „Sputnik“ unterbunden.
Diese Verbote hatten vor allem zur Folge, dass sich die russische Desinformation noch stärker in die sozialen Medien verlagerte. Gegensteuern tut kaum jemand. In Paris herrscht die verheerende Lehrmeinung vor, ein Informations- und Propagandakrieg könne nur defensiv sein. Dabei kann man solche Einsätze nur gewinnen, wenn sie offensiv geführt werden.
Ukraine-Krieg: Europa braucht kreative Lösungen
Was müsste der Westen tun?
Zuerst einmal müssen sich die Europäer intern absprechen und auf kreative Lösungen einigen. Dabei müssten sie sehr flexibel und agil vorgehen. Ich befürchte, dass schwerfällige Instanzen wie die Nato oder die deutsch-französische Konzertierung nicht weiterhelfen. Sie denken zu traditionell und haben die Bedeutung der Kommunikation nicht erkannt.
Etwas konkreter: Müssten westliche Staaten eine Hacker-Armee ausbilden?
Über die Methoden will ich mich nicht auslassen, da hören oder lesen unsere russischen Freunde mit. Was ich aber sagen kann, ist, dass wir Leute in Deutschland, Frankreich oder Italien brauchen, die bereit sind, einen hybriden Krieg zu „denken“. Das müssen nicht unbedingt Amerikaner und Briten sein; sie haben nicht dieselben Ziele und Interessen. (Stefan Brändle)