EuGH-Urteil könnte Flüchtlingspolitik revolutionieren

Müssen Botschaften von EU-Staaten Flüchtlingen Visa erteilen, damit sie einen Asylantrag stellen können? Der Europäische Gerichtshof fällt am Dienstag ein wegweisendes Urteil.
In der EU-Flüchtlingspolitik steht eine wegweisendes Gerichtsurteil an: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entscheidet am Dienstag, ob die Auslandsbotschaften von EU-Staaten Visa erteilen müssen, damit Flüchtlinge in Europa einen Asylantrag stellen können.
Ein richterlicher Rechtsgutachter des EuGH plädierte im Februar für eine entsprechende neue Flüchtlingspolitik der EU-Staaten, auch um so kriminellen Schleusern das Wasser abzugraben.
Konkret geht es um eine christlich-orthodoxe Familie aus Aleppo in Syrien. Die Eltern und ihre drei Kinder beantragten in Belgiens Botschaft in der libanesischen Hauptstadt Beirut Visa, um in Belgien einen Asylantrag stellen zu können.
Der Familienvater gab dazu an, er sei in Syrien bereits von einer bewaffneten Gruppe entführt und gefoltert worden, bis er gegen Lösegeld freigekommen sei. Wegen ihres Glaubens drohe der Familie weitere Verfolgung.
Das belgische Ausländeramt lehnte die Visaanträge ab. Die EU-Mitgliedstaaten seien nicht verpflichtet, alle Menschen aufzunehmen, die eine katastrophale Situation erlebten. Auf Klage der Familie riefen die belgischen Gerichte in einem Eilverfahren den EuGH an.
Dort legte am 7. Februar zunächst der sogenannte Generalanwalt Paolo Mengozzi ein Rechtsgutachten vor. Er vertrat die Ansicht, die EU-Staaten sein verpflichtet, in solchen Fällen ein "humanitäres Visum" zu erteilen. Dies gelte, wenn nach den konkreten Umständen und Tatsachen den Flüchtlingen Folter oder eine andere unmenschliche Behandlung drohe.
Im konkreten Fall treffe dies offenbar zu. Daher sei es "unvorstellbar", dass die Familie in Syrien zu bleiben habe. Sich damit abzufinden, als illegale Flüchtlinge ohne internationalen Schutz im Libanon zu bleiben und womöglich nach Syrien zurückgeschickt zu werden, sei ebenfalls "untragbar".
Ebenso sei es "unzumutbar", sich unter Lebensgefahr Schleusern auszuliefern, um Italien oder Griechenland zu erreichen. Die Familie würde so in die Arme jener getrieben, "gegen die die EU derzeit vor allem im Mittelmeer mit großen operationellen und finanziellen Anstrengungen vorgeht, um ihre kriminellen Aktivitäten aufzudecken und zu unterbinden".
Der Europareferent der Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl, Karl Kopp, bezeichnete das Rechtsgutachten als "Licht in dieser finsteren Zeit", weil Europa ansonsten "die Verantwortung für Flüchtlinge an menschenrechtsfeindliche Regime wie in Libyen auslagern" wolle.
Für sein nun anstehendes Urteil ist der EuGH nicht an das Plädoyer seines Generalanwalts gebunden. Folgt er aber dem Vorschlag Mengozzis, was häufig der Fall ist, hätte dies weitreichende Folgen für die Asyl- und Flüchtlingspolitik der EU. (afp)