Das ist jetzt der Kern der Vorwürfe der EU-Kommission: Karlsruhe habe sowohl das EZB-Programm als auch das dazu gefällte EuGH-Urteil als „ultra vires“ qualifiziert - als Kompetenzüberschreitung. Damit habe das Bundesverfassungsgericht das Prinzip gebrochen, dass EU-Recht den Vorrang vor nationalem Recht habe.
Wenn das Schule mache, dann könnte das zu einem „Europa à la carte“ führen, sagte Kommissionssprecher Christian Wigand. Europäisches Recht müsse aber überall und für alle Bürger gleich angewandt werden. Dass die Kommission nun ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einleitet, ist auch ein Signal: Selbst der mächtigste Mitgliedsstaat kann sich solche Alleingänge nicht leisten.
Die auch von Rechtsexperten als schwierig eingeschätzte Lage nach dem Karlsruher Urteil hatte sich zuletzt eigentlich entspannt. Laut Urteil sollten Bundesregierung und Bundestag darauf hinwirken, dass die EZB nachträglich prüft, ob die Anleihekäufe verhältnismäßig waren. Das ist inzwischen erledigt, wie das Verfassungsgericht Ende April bestätigte. Man hätte den Konflikt also ruhen lassen können.
Aber das ging aus Sicht der EU-Kommission nicht, weil inzwischen andere das deutsche Urteil für sich nutzen. Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki hatte schon 2020 von einem „der wichtigsten Urteile in der Geschichte der Europäischen Union“ gesprochen. Jetzt sucht er selbst den Konflikt mit dem EuGH.
Die Luxemburger Richter hatten Polen* Ende Mai in einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Förderung von Braunkohle im Tagebau Turow zu stoppen. Doch Morawiecki widersprach. Man werde nicht die Energiesicherheit polnischer Bürger aufs Spiel setzen, „nur weil irgendwer im (Europäischen) Gerichtshof diese oder jene Entscheidung getroffen hat“, sagte der Regierungschef damals. Keine Entscheidung irgendeiner EU-Institution dürfe polnische Bürger Risiken aussetzen.
Aus Brüsseler Sicht geht es ans Eingemachte, was Kommissionschefin Ursula von der Leyen schon vor einem Jahr deutlich machte: „Das letzte Wort zu EU-Recht wird immer in Luxemburg gesprochen. Nirgendwo sonst.“ Angela Merkels Regierungssprecher Steffen Seibert reagierte am Mittwoch schmallippig mit dem Satz, man werde sich die in dem Mahnschreiben geäußerten Bedenken genau anschauen und dann wie vorgesehen darauf schriftlich reagieren. Dafür hat Deutschland zwei Monate Zeit.
Pikant: Der Adressat des EU-Verfahrens ist die Bundesregierung, doch die kann dem Verfassungsgericht keine Vorschriften machen. Kommissionssprecher Wigand blieb vage. Man respektiere natürlich vollkommen die Unabhängigkeit der Justiz in Deutschland. Aber: „Letztlich könnte eine Änderung in der Rechtssprechung in Deutschland oder ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs eine wichtige klärende Funktion in diesem Kontext haben.“ Gibt es keine gütliche Einigung, ist das wohl das Wahrscheinlichste: der nächste Fall für Luxemburg inklusive Streitpotenzial mit Karlsruhe.
Ein neues (kleineres) Vertragsverletzungsverfahren gibt es unterdessen auch gegen Ungarn. Es geht um den Entzug der Sendelizenz für den unabhängigen Sender Klubradio. Die ungarischen Behörden seien „unverhältnismäßig und nicht transparent“ bei der Zurückweisung des Antrags auf Erneuerung der Sendelizenz vorgegangen, teilte die Kommission am Mittwoch mit. Dies sei „ein Bruch von EU-Recht“. Klubradio war der wichtigste noch unabhängige Radiosender in Ungarn. Ein Budapester Gericht hatte im Februar einen Einspruch von Klubradio gegen den Entzug der Sendelizenz abgelehnt. (fn/dpa) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.