„Mit dieser Mauerbau-Rhetorik kapituliert Europa vor den eigentlichen Herausforderungen“

In Brüssel treffen sich am Donnerstag die EU-Staaten zu einem Sondergipfel Migration. Zu den Plänen äußert sich Grünen-EU-Politiker Erik Marquardt im Interview.
Herr Marquardt, der EU-Rat berät sich zum Thema Migration. Im Vorfeld werden Forderung nach einer „gerechten Verteilung“ von Geflüchteten laut. Wie könnte diese aussehen?
Das ist in der Theorie sehr einfach. Man nimmt die Einwohnerzahl und die Wirtschaftsleistung der Staaten und verteilt Asylsuchende von den Außengrenzen dann nach einem gerechten Schlüssel in die verschiedenen Mitgliedstaaten. In der Praxis weigert sich eine Mehrzahl der EU-Mitgliedstaaten aber, an einem funktionierenden und gerechten Asylsystem mitzuwirken. Dadurch hat man seit Jahren das Gefühl, dass trotz der für die Größe Europas überschaubaren Ankunftszahlen an den Außengrenzen eine Dauerkrise entsteht. Diese Krisenwahrnehmung hilft dann den Rechtspopulisten, und auf diese reagieren die Konservativen wiederum mit einem Überbietungswettbewerb in populistischer Abschottungsrhetorik.
Das ist aber kein neues Problem
Nein, es ist seit vielen Jahren der gleiche Mechanismus, von dem am Ende weder die EU, noch die Demokratie oder die Geflüchteten profitieren, sondern nur der Rechtspopulismus. Das ist nicht nur traurig, sondern auch gefährlich. Inzwischen haben wir systematische Misshandlungen von Schutzsuchenden an vielen Außengrenzen, weil viele glauben, dass Abschottung die einzige Möglichkeit für eine geordnete Asylpolitik ist.
EU-Ratssitzung zur Migration: EU-Staaten im „Modus von Zweijährigen“
Staaten wie Ungarn oder auch Österreich würden wohl Migration lieber heute als morgen gänzlich stoppen. Wie sollte man mit diesen Staaten umgehen?
Es sind ja nicht die Einzigen, die den Eindruck erwecken, sich vor den Herausforderungen der globalisierten Welt am Liebsten einmauern zu wollen, bis sie damit nichts mehr zu tun haben. Einfach „Abschiebung, Abschottung, Abschreckung” zu rufen und zu glauben, dass dann trotz weltweit immer mehr Geflüchteter weniger in Europa ankommen, ist so ein bisschen der Modus von einem Zweijährigen, der sich die Augen zuhält und glaubt, dass man dadurch nicht mehr gesehen wird. Die konservativen und rechtspopulistischen Regierungen kapitulieren mit ihrer Mauerbau-Rhetorik vor den eigentlichen Herausforderungen, das muss man mehr Menschen in der Öffentlichkeit klar machen.
Seit Jahren führen sie irgendwelche unwürdigen Abschottungsmaßnahmen durch, und am Ende regen sie sich danach wieder über steigende Flüchtlingszahlen auf. Ich glaube, dass wir besser erklären müssen, dass Abschottung keine Lösung ist - weil sie auf Gewalt und Verbrechen gegen Schutzsuchende basiert, aber auch, weil dadurch ja nicht weniger Menschen flüchten müssen. Dafür müsste man auch ernsthaft Fluchtursachen bekämpfen. Es ist deswegen absurd, dass die asylfeindlichen Staaten auch diejenigen sind, die die Entwicklungszusammenarbeit kürzen.
Erik Marquardt
Der Fotojournalist und Politiker wurde am 20. Oktober 1987 in Neubrandenburg geboren. Er ist Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen und ist seit der Europawahl 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments. Seine Schwerpunktthemen sind Flucht, Migration und Menschenrechte.

Ist es überhaupt sinnvoll, Geflüchtete in solche Staaten zu schicken, die im Vorfeld schon dicht machen?
Es darf ja nicht normal werden, dass die EU-Staaten in einen Wettstreit darum eintreten, wer Menschen am härtesten entrechten oder misshandeln kann. Es ist also nicht sinnvoll, Geflüchtete in Staaten zu schicken, in denen sie misshandelt werden. Es ist sinnvoll, dass Kommission und Rat dafür sorgen, dass kein EU-Staat Menschen misshandelt. Wir haben Gesetze, die nicht einfach gebrochen werden dürfen. Keine Regierung steht über dem Gesetz.
Aber das passiert ja nicht
Die Europäische Union wurde auf den Trümmern des Faschismus errichtet. Und zum Fundament dieser Union gehört, dass man nie wieder wollte, dass die Würde des Menschen antastbar wird, und Willkür in Europa herrscht. Man hat sich mit der Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtet, Schutzsuchende in rechtsstaatlichen Verfahren auf ihre Schutzberechtigung zu prüfen und gefährdete Menschen nicht einfach zurückzuschicken. Die Europäische Union wird zunehmend geschichtsblind aber auch menschenrechtsblind. Das macht mir wirklich Sorgen.
Umgang mit Migration in der EU: „Die EU wird zunehmend geschichtsblind“
Die EU versucht seit längerem, auf Herkunftsländer Druck auszuüben. Was ist hier zukünftig zu erwarten?
Ein Fokus der Sondersitzung liegt auf Abschiebungen. Das passiert oft nicht, weil die Zusammenarbeit bei Abschiebungen in den Herkunftsstaaten unpopulär ist und viele Länder schlicht von den Rücküberweisungen ihrer Diaspora in der EU angewiesen sind. Um den Druck zu erhöhen, fordern nun manche politische Kräfte, dass man die Vergabe von Visa für die EU und die Auszahlung von Geldern in der Entwicklungszusammenarbeit einschränken sollte. Das erzählt man jedoch seit Jahren, die Herkunftsstaaten interessieren sich herzlich wenig dafür.
Was schlagen Sie vor?
Statt immer wieder gegen die gleiche Wand zu rennen, sollte man endlich verstehen, dass man etwas anbieten muss, wenn man etwas will. Ernsthafte und wirksame Migrationsabkommen brauchen Erleichterungen bei der legalen Einreise statt Drohungen. Wenn wir zum Beispiel Tunesien sagen würden, dass sie Visafreiheit kriegen und man nun 90 Tage im Schengenraum sein darf, würden sie sofort entscheiden, dass alle, die das Visum überschreiten, auch zurückgenommen werden. Und damit würde man die Flucht aus Tunesien über das Mittelmeer sofort beenden, tausende Menschenleben wären gerettet.

„Die EU kann sich von ihren Werten freikaufen“
Könnte die EU sich auch freikaufen, also Autokraten dafür bezahlen, dass sie Geflüchtete wieder ins Land lassen?
Das könnte nicht nur passieren, es passiert bereits. Autokraten fungieren längst als Türsteher Europas, und die Außengrenzen der EU werden immer weiter außerhalb der EU verlagert. Die EU verschenkt Boote an libysche Milizen, damit sie verhindern, dass Menschen vor den schrecklichen Zuständen in Libyen fliehen. Wir schenken also einer islamistischen Kriegspartei Schiffe, damit sie Flüchtlinge davon abhalten, nach Europa zu flüchten. Viele der abgefangenen Menschen werden dann in Lager gebracht, in denen ihnen systematische Folter droht.
Also ja, die EU kann sich von ihren Werten freikaufen, aber sie wird dadurch zu einem verwahrlosten Rest ihrer Grundidee. Die Verantwortlichen schämen sich hoffentlich irgendwann dafür, welches Leid sie in Kauf nehmen, um ihre politischen Ziele zu erreichen.
Die EU macht Politik auf Kosten von menschlichem Leid?
Ja. Es wäre gut, wenn wir zu demokratischen Verhältnissen in der Asylpolitik zurückkehren und uns erstmal an unsere eigenen Gesetze halten. Irreguläre Migration ist eine Herausforderung, aber keine, auf die man mit Verbrechen reagieren muss. Wenn Europa den politischen Willen hat, eine humane, funktionierende Asylpolitik umzusetzen, können wir viel erreichen. Das hat der Umgang mit mehr als 5 Millionen Geflüchteten aus der Ukraine letztes Jahr gezeigt.
(Interview: Katja Thorwarth)