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„Die eigentliche Krise ist die der Menschenrechte“

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Von: Bascha Mika

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Eine Geflüchtete geht Ende Januar mit ihrem Kind im Hafen des italienischen Livorno an Land.
Eine Geflüchtete geht Ende Januar mit ihrem Kind im Hafen des italienischen Livorno an Land. © imago

„Pro Asyl“-Vorsitzender Andreas Lipsch über die Verschärfung der EU-Migrationspolitik und warum sie überflüssig ist – und auch noch schädlich.

Herr Lipsch, endlich ist sich die Führungsriege der EU-Staaten mal einig in der Flüchtlingspolitik – doch nur, weil sich die rechten Hardliner durchgesetzt haben. Die Beschlüsse, die Ende vergangener Woche gefasst wurden, sind ein Panoptikum des Schreckens für alle Betroffenen. Unmenschlichkeit statt Menschenrechte?

Besser kann ich auch nicht zusammenfassen, was Giorgia Meloni, die postfaschistische Regierungschefin Italiens, jetzt als „großen Sieg“ feiert. Das sollte uns alle das Fürchten lehren, denn es ist nachzulesen, was Frau Meloni will, nämlich Flüchtlinge um jeden Preis von Europa fernhalten. Und sei es durch Abkommen mit Libyen, wo Schutzsuchende gefoltert werden. Oder durch die Verhinderung der Seenotrettung. Nun jubelt Frau Meloni, weil nicht wenig von ihrem menschenrechtswidrigen Programm in der EU offenbar umgesetzt werden soll.

Befestigungszäune will die EU nicht finanzieren, aber die „Infrastruktur“ an den Grenzen mit Geld stärken. Wer hindert die einschlägigen Staaten dann daran, die Mittel für Mauern und Zäune einzusetzen?

Niemand. Und ich behaupte, das ist auch gar nicht gewollt. Brüssel will beim Mauerbauen und Zäuneziehen nur nicht in der ersten Reihe stehen. Das sollen andere machen. Diese Arbeitsteilung wird schon seit Jahren vor allem mit Griechenland eingeübt. Dort gibt es – vielfach dokumentiert – völkerrechtswidrige Pushbacks, Tausende. Dort wird das Asylrecht schon seit Jahren EU-rechtswidrig ausgehöhlt. Und Brüssel schaut zu, schweigt und lässt machen.

Mit Hilfe der Handels- und Entwicklungspolitik soll mehr Druck auf die Herkunftsländer ausgeübt werden, damit sie abgelehnte Asylbewerber:innen aufnehmen. Wie erfolgreich könnte das sein?

Welche Länder soll ich mir da jetzt vorstellen? Wenn ich mir anschaue, woher Asylsuchende kommen, frage ich mich: Wollen wir jetzt wirklich mit Afghanistan, Somalia oder dem Irak über die Rücknahme schutzsuchender Menschen verhandeln? Vielleicht könnte man solche Länder ökonomisch ja derart in die Knie zwingen, dass sie zu irgendwas bereit wären. Aber sollen wir das wirklich wollen? Und viel Energie in sowas stecken? Die scheint mir besser in Integrationsperspektiven und in Spurwechsel zwischen Asyl und Arbeitsmarkt investiert. Die Unternehmen, Betriebe und Einrichtungen, die gerade händeringend nach Arbeitskräften suchen, würden es danken.

Andreas Lipsch ist Vorsitzender von „Pro Asyl „ und Interkultureller Beauftragter der Evangelischen Kirche in Hessen.
Andreas Lipsch ist Vorsitzender von „Pro Asyl „ und Interkultureller Beauftragter der Evangelischen Kirche in Hessen. © Boeckheler

Warum hat sich der deutsche Kanzler den Kolleg:innen aus Italien und Österreich nicht widersetzt?

Das muss der Kanzler selbst beantworten. Ob auch er tatsächlich glaubt, dass Migration und Flucht in Europa nur durch Abschottung, Gewalt und Entrechtung gestaltet werden kann? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, was ich mir von allen verantwortlichen Politiker:innen in Deutschland und Europa wünsche. Und das sind keine Konsense mit einer postfaschistischen Regierungschefin, sondern die Abrüstung der Sprache, der Zäune und der Mauern. Was ich mir nicht nur wünsche, sondern was auch möglich wäre: eine nüchterne, menschenrechtsbasierte und zukunftsorientierte Aufnahme- und Integrationspolitik.

Ertrinken lassen, Pushbacks, Freiheitsberaubung – schon jetzt werden permanent Menschenrechtsverbrechen an Geflüchteten begangen. Kann eine geregeltere EU-Flüchtlingspolitik die Situation verbessern?

Es ist umgekehrt. Das, was es zurzeit schon an systematischen Menschenrechtsverletzungen an den europäischen Grenzen gibt, also der verhinderte Zugang zum Recht auf Asyl in Griechenland, Elektroschocker, Schlagstöcke und Pfefferspray an der kroatisch-bosnischen Grenze und Pushbacks überall, all das, was bisher klar gegen EU-Recht verstößt und trotzdem von der Europäischen Kommission und den Mitgliedstaaten beschwiegen wird, dieser ganze Alptraum soll nun ganz offiziell europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik werden. Das ist es, was in Europa offenbar zur Regel werden soll: die faktische Abschaffung des Rechts auf Asyl und die Missachtung der Menschenrechte.

Wird die europäische Abschottungspolitik irgendetwas daran ändern, dass Menschen sich auf die Flucht machen? Außer, dass noch mehr auf dem Weg sterben werden?

Die Menschen fliehen nach wie vor aus Afghanistan, aus Somalia, aus Syrien und anderen Kriegs- und Krisengebieten. Nicht, weil sie Spaß dran haben, sondern weil es um ihr Leben und ihre Würde geht. Sie werden weiter versuchen, Schutz zu finden, einige von ihnen – übrigens gar nicht so viele – in Europa. Also ja: Je höher die Zäune, umso mehr werden sterben. Je mehr organisierte Desintegration von geflüchteten Menschen, desto mehr Obdachlose, desto mehr rechtlose Männer, Frauen und Kinder mitten in Europa. Wollen wir das wirklich?

Vor allem, weil im vergangenen Jahr – abgesehen von den ukrainischen Kriegsflüchtlingen, die keinen Asylantrag stellen müssen – nur rund 900.000 Menschen in der EU Schutz gesucht haben ...

... auf einem Kontinent mit mehr als 450 Millionen Einwohnern. Ich finde es unverantwortlich, angesichts solcher Zahlen Alarm zu schlagen und Krisen auszurufen. Die eigentliche Krise, vor der sich alle in Europa fürchten sollten, ist die Krise der Menschenrechte und des Rechtsstaats. (Interview: Bascha Mika)

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