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Estland: Wie weit zur Utopie der Gleichberechtigung?

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Tallinn: Hochburg einer gleichberechtigten Politik?
Tallinn: Hochburg einer gleichberechtigten Politik? © Design Pics/Imago

Eine Premierministerin,ein fast paritätisches Kabinett und Frauen mit dem höchsten Bildungsniveau Europas: Estland bringt alles mit, was auf eine baldige Gleichheit der Geschlechter hoffen lässt. Doch genauer betrachtet sieht die Sache anders aus.

Von Sarah Tekath 

Der Weg zwischen den Bücherregalen ist mit weißen Linien auf dem Boden markiert. Bei den vielen Gängen ist es leicht, die Orientierung zu verlieren. Endlich ist die Tür mit der richtigen Aufschrift gefunden – Feministeerium. Zwei Schreibtische stehen in einer Ecke. Dahinter ein Bücherregal mit Titeln wie „Invisible Women“, „Misogyny“ und „Frauen schulden dir gar nichts“. Darüber hängt eingerahmt etwas, das wie ein roter Luffa-Schwamm aussieht, sich aber als wiederverwendbare Menstruations-Slipeinlage herausstellt.

Ganz schön modern für ein Ministerium. Denn bei diesen Räumlichkeiten handelt es sich um Estlands feministisches Ministerium – also, zumindest dem Namen nach. Offiziell ist „Feministeerium“ eine der wichtigsten privaten feministischen Organisationen im Land, die sich vor allem über Spenden und Fördergelder finanziert. „Estland hat zahlreiche Baustellen, wenn es um Geschlechtergleichheit geht“, erklärt Aet Kuusik, Gründungsmitglied von „Feministeerium“.

Gleichberechtigung: Selbst das estnische Militär wirbt um Frauen, allerdings mit wenig Erfolg 

Die Organisation veröffentlicht ein feministisches Magazin, organisiert Events und übernimmt die Interessenvertretung von marginalisierten Gruppen. Eines der größten Probleme sei der Gender Pay Gap. 2020 war er mit 21 Prozent der zweitschlechteste in der EU – der europäische Durchschnitt lag bei 13 Prozent. Nur in Lettland mit 22 Prozent war der Wert noch höher. Zum Vergleich: In Deutschland lag er vor drei Jahren bei 18 Prozent.

Gleichzeitig sei der Arbeitsmarkt sehr nach Geschlechtern getrennt, so Kuusik. Estnische Frauen würden zu den am besten ausgebildeten Frauen der EU zählen: 53 Prozent in der Altersgruppe von 25 bis 64 Jahren haben einen Abschluss einer weiterführenden Schule. Die Tendenz ist steigend: Wurden im Jahr 2000 noch 140 000 Frauen als hochausgebildet gezählt, waren es 2021 mehr als 180 000. Nichtsdestotrotz, erläutert Kuusik, seien Frauen häufig in Berufen zu finden, die traditionellen Geschlechterrollen zugeschrieben würden – also in der Lehre oder Pflege, und zudem weniger in Führungspositionen.

Aktuell laufen einige Kampagnen für mehr Frauen in höher dotierten sowie in nicht als weiblich wahrgenommenen Berufsfeldern. Die Tallinn University of Technology hat einen „Gender Equality Principles and Action Plan“ für 2021 bis 2025 aufgestellt. Das Statement auf der Webseite der Universität lautet: „Der Frauenanteil nimmt auf höheren Stufen der akademischen Leiter ab.“ Ebenso wird beleuchtet, warum der Anteil von Frauen in nichtwissenschaftlichen Positionen deutlich höher, im oberen und mittleren Management geringer und warum deren Zugang zu Entscheidungsgremien eingeschränkt ist. Sobald die Gründe dafür bekannt sind, sollen entsprechende Gegenmaßnahmen eingeleitet werden.

Aet Kussik hat die Organisation „Feministeerium“ mitbegründet und engagiert sich dort gegen Diskriminierung.
Aet Kussik hat die Organisation „Feministeerium“ mitbegründet und engagiert sich dort gegen Diskriminierung. © Sarah Tekath

Seit März 2021 wirbt das estnische Militär, damals mit einem Frauenanteil von zehn Prozent, mit Aufstiegsmöglichkeiten und einem geschlechterunabhängigen Gehalt. Der Erfolg ist bislang allerdings gering, denn Zählungen von Juni 2022 ergeben, dass sich nur rund 60 Frauen im vergangenen Jahr zum Dienst an der Waffe gemeldet haben. Das entspricht gerade einmal zwei Prozent aller Rekrutinnen und Rekruten.

Bereits seit 2005 ernennt Estland Beauftragte für Geschlechtergleichheit, die sich um alle Formen von Diskriminierung kümmern, auch auf dem Arbeitsmarkt. Das Amt wird von einer unabhängigen und unparteilichen Person besetzt und ist an keine staatliche Institution angebunden.

Personen, die den Verdacht haben, aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Nationalität (ethnischen Herkunft), ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer Weltanschauung, ihres Alters, einer Behinderung oder ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert worden zu sein, können sich an diese Menschen wenden.

Aktueller Beauftragter ist Christian Veske, der bereits für das „European Institute for Gender Equality“ gearbeitet hat. Seine Aufgabe ist es die Einhaltung der Anforderungen des Gleichstellungsgesetzes und des Gleichbehandlungsgesetzes zu überwachen. „Natürlich ist dieses Amt wichtig“, sagt Aet Kuusik, „aber es kommt auch auf die Person an, die es übernimmt. Ihrer Einschätzung nach habe die letzte Person einen besonderen Fokus auf Mütter gelegt. Allerdings sollten auch Diskriminierung, sexualisierte oder geschlechtsspezifische Gewalt, Frauen mit Behinderung und trans-Fragen stärker in den Blick genommen werden.

Land & Leute

700 Jahre unter Fremdherrschaft – und zwar unter Dänemark, Schweden und dem russischen Zarenreich – wurde Estland regiert. Nach 1918 folgte bis 1940 eine kurze Phase der Unabhängigkeit. In dieser Zeit erhielten Frauen auch das Wahlrecht. Dann war das baltische Land wieder von Nazi-Deutschland und schließlich der Sowjetunion okkupiert. Seit deren Zusammenbruch 1991 ist Estland unabhängig und eine parlamentarische Demokratie mit 101 Sitzen im Parlament.

Rund 1,3 Millionen Menschen leben derzeit in Estland, davon ungefähr 430 000 in der Hauptstadt Tallinn. Die russische Minderheit macht in der Bevölkerung knapp ein Drittel aus. Gerade im Osten des Landes, beispielsweise in der Region um die Stadt Narva, die an Russland grenzt, steigt der Anteil der Russinnen und Russen auf mehr als 90 Prozent an. Viele Angehörige dieser Minderheit verstehen kein Estnisch und haben keinen estnischen Pass. st

Anfang 2021 sorgte Estland weltweit für Schlagzeilen, als es mit der Wahl von Kaja Kallas (Reform-Partei) zur Premierministerin das damals einzige Land der Welt war, in dem die wichtigsten politischen Posten ausschließlich Frauen innehatten. Kersti Kaljulaid war zu diesem Zeitpunkt bereits seit Oktober 2016 Staatspräsidentin, ihre Amtszeit endete im Oktober 2021. Premier Kallas – die erste Frau in diesem Amt nach 15 Männern – ist derzeit noch auf ihrem Posten. Die nächsten Wahlen finden im März 2023 statt. Umfragen aus der ersten Februarwoche 2023 zufolge hat Kallas aktuell die höchsten Beliebtheitswerte.

Dennoch waren Frauen in der estnischen Politik lange kaum präsent. Erst 2019, nach den letzten Parlamentswahlen, wurde erstmals seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1991 eine Höchstzahl der 101 Mandate an Frauen vergeben: Insgesamt 27, also knapp 26 Prozent, verteilt auf fünf Parteien. Zum Vergleich: 2007 erhielten Frauen nur 24 Mandate. Premierministerin Kallas stellte eine beinahe geschlechtsparitätische Regierung zusammen mit sieben Ministerinnen, unter anderem im Bereich Justiz und Finanzen, und acht Ministern. Das entspricht einer Quote von knapp 47 Prozent – die höchste in der Geschichte Estlands.

Spielerischer Umgang mit Geschlechterrollen.
Spielerischer Umgang mit Geschlechterrollen. © Sarah Tekath

Ähnlich wie in der Politik verhält es sich in der Wirtschaft. Zwar gilt Estland europaweit wegen seiner Digitalisierung und seiner Start-up-Szene als Vorbild – von hier stammen beispielsweise Unternehmen wie Skype, der Überweisungsdienst TransferWise oder das Taxiunternehmen Bolt –, aber in Sachen Geschlechtergleichheit ist noch viel Luft nach oben. Übrigens: Keines der genannten Unternehmen wurde von Frauen gegründet.

Nach Angaben von Estonian Startup Database und Statistics Estonia aus dem Jahr 2021 wird nur jedes fünfte Start-up in Estland von einer Frau aufgebaut: 30 Prozent davon im Bereich Gesundheit, gefolgt von Bildungstechnologie und Kommunikation. Karen Burns ist IT-Gründerin. Die Estin hat vor drei Jahren ihr Unternehmen „Fyma“ aufgebaut, das öffentliche Räume mithilfe von Datenanalyse aus Videoaufnahmen, zum Beispiel im Hinblick auf Sicherheit im Straßenverkehr und die Nutzung von Fahrrädern in Städten, verbessern will. Schwierig für Frauen, die ein eigenes Unternehmen gründen wollten, sei ihrer Meinung nach vor allem die Finanzierung.

Estland: Start-up-Gründerinnen erhalten gerade mal ein Prozent des Risikokapitals 

Sie erlebe immer wieder, dass Männer und Frauen in der Gründer:innen-Szene anders behandelt würden. „Jedes Jahr erscheint der sogenannte State Of European Tech Report und der letzte von Ende 2022 zeigt, dass vor Covid-19 gerade einmal drei Prozent des Risikokapitals an Gründerinnenteams gegangen sind. Nach der Pandemie ist die Zahl auf ein Prozent gefallen“, erklärt Burns. Am eigenen Leib habe sie erfahren, dass die Mittel erheblich kleiner seien im Vergleich zu denen eines Mannes und dass der Prozess doppelt so lange dauere. Ihr Fazit: „Wir bekommen Geld, um zu überleben, aber nicht, um zu wachsen. Niemand vertraut Frauen Geld an.“ Denn, so sagt sie, Investorinnen seien kaum vorhanden und so schielten Männer vor allem auf das eigene Netzwerk.

Karen Burns ist eine der wenigen IT-Gründerinnen in Estland. Deshalb ist Nachwuchsförderung ihr großes Anliegen.
Karen Burns ist eine der wenigen IT-Gründerinnen in Estland. Deshalb ist Nachwuchsförderung ihr großes Anliegen. © Sarah Tekath

Deshalb hat Karen Burns ihren eigenen Weg gefunden, um Frauen in Estland zu unterstützen. „Ich spreche so viel wie möglich auf Events und Konferenzen. Selbst, wenn ich eigentlich gar keine Lust habe, teilzunehmen, gehe ich trotzdem um der Diversität willen hin. Denn wir brauchen mehr Frauen auf der Bühne“, sagt sie.

Sie halte Vorträge an Schulen und biete anderen Frauen an, bei ihr ein Praktikum zu absolvieren. Außerdem stehe sie als Mentorin zur Verfügung und gebe Kurse an der Universität Tartu. Und sie ist Vorstandsmitglied der sogenannten „Estonian Founders Society“, die junge Start-up-Gründer:innen berät, vernetzt und schult. Um Frauen in Estland voranzubringen, brauche es laut Burns „eine ganze Welle von Frauen, damit sie endlich Entscheidungen mittragen können“.

Dieser Text erscheint parallel auf der Online-Plattform „Deine Korrespondentin“. Er wird hier als Teil einer Kooperation mit der Frankfurter Rundschau veröffentlicht.

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