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Warum der Westen Angst vor dem Sieg der Ukraine hat

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Von: Foreign Policy

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Hat Europa um Kanzler Olaf Scholz und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen insgeheim Angst vor einem Sieg der Ukraine?
Hat Europa um Kanzler Olaf Scholz und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen insgeheim Angst vor einem Sieg der Ukraine? © Montage: Imago/Zuma-Wire/Political-Moments

Zeitenwende? Eigentlich soll alles so bleiben, wie es ist: Der Kiewer Wissenschaftler hält Deutschland und EU in seinem Essay den Spiegel vor.

Kiew - Am ersten Tag des totalen Krieges Russlands gegen die Ukraine traf der deutsche Finanzminister Christian Lindner (FDP) den damaligen ukrainischen Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk. Wie Melnyk später erzählte, lehnte Lindner es nicht nur einfach ab, die Ukraine mit Waffen zu beliefern oder Russland vom SWIFT-Zahlungssystem abzukoppeln, da der Ukraine nur noch „wenige Stunden“ ihrer Souveränität blieben. Es sei auch deutlich geworden, dass sich Lindner darauf vorbereitete, die Zukunft einer von Russland besetzten Ukraine mit einer vom Kreml eingesetzten Marionettenregierung zu diskutieren. Das spiegelt eine allgemeine Haltung wider: Der Westen dachte damals, es wäre einfacher, wenn sich die Ukraine einfach ergibt.

Eine unbequeme Wahrheit über Russlands völkermörderischen Krieg gegen die Ukraine ist so offensichtlich, dass sie meist übersehen wird. Das Ganze wurde nicht nur möglich, weil es vom Angreifer geplant und durchgeführt, sondern auch, weil es von den Umstehenden zugelassen wurde. Der größte Schlag für die Demokratie auf globaler Ebene war nicht der Krieg selbst, sondern die Tatsache, dass – trotz aller „Nie wieder“-Behauptungen – die europäischen und westlichen Länder generell von vornherein einlenkten und akzeptierten, dass eine andere europäische Nation ihrer Souveränität, ihrer Freiheit und ihrer unabhängigen Institutionen beraubt werden und sich unter militärischer Besetzung wiederfinden könnte. (Hätten sie dies nicht so empfunden, hätten sie ihre Botschaften in Kiew nicht evakuiert).

Der Westen hat schon immer Angst vor einem Sieg der Ukraine

Bislang hat der Westen in der Ukraine einen guten Krieg erlebt – vor allem, weil sein derzeitiger Kurs dem Westen immer noch erlaubt, so zu tun, als sei der Krieg nicht sein eigener. Der politische Diskurs des Westens, rationalisiert in der Elfenbeinturmsprache der Nicht-Eskalation und Nicht-Provokation, dreht sich im Wesentlichen immer noch darum, wie man am besten sicherstellt, dass das Risiko von militärischer Aggression und Tod auf die Ukrainer beschränkt bleibt. Im Grunde genommen hatte der Westen schon immer Angst vor einem ukrainischen Sieg.

Für diese Befürchtung gibt es drei zentrale Gründe. Der erste ist der tiefgreifende Nicht-Revolutionismus des Westens. Die Ukraine muss nun auf unvorstellbare Weise für den Fall der Berliner Mauer und die in Deutschland so gefeierte sogenannte Friedliche Revolution von 1989 bezahlen. Sie wurde vom faktischen deutschen Staatsphilosophen Jürgen Habermas bekanntlich als „die nachholende Revolution“ bezeichnet – ein Begriff, der symptomatisch das westliche Grundverständnis der Rolle Osteuropas nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Blocks aufzeigt. Die einzige Aufgabe, die der Region zugewiesen wurde, bestand darin, ungeachtet ihrer tatsächlichen historischen Erfahrungen einfach zum Westen aufzuschließen.

Der Ukraine-Krieg zeigt, dass diese nachholende Revolution zu einem nachholenden Rückfall in die Selbstzufriedenheit wurde, ein Sinnbild für die allgemeine Entwicklung des Westens nach dem verkündeten „Ende der Geschichte“.

Der Euromaidan der Ukraine war zu europäisch für die heutige EU

Ein Sieg der Ukraine über Russland würde in der Tat eine echte Revolution für den Westen bedeuten. Sie würde vor allem von Europa eine radikale Umgestaltung erfordern. Die anstehende Erweiterung der Europäischen Union und der NATO ist notwendig – aber nur von der Oberfläche aus betrachtet. Das ist derselbe Grund, warum die Europäische Union die politischen Ergebnisse der Euromaidan-Revolution in der Ukraine im Jahr 2014 nicht akzeptieren konnte. Als politischer Marktplatz – oder „Agora“, wie es im Altgriechischen heißt –, der von seinen Bürgern zurückerobert wurde, hat die Euromaidan-Revolution Europa zu seinen Wurzeln von Demokratie, Gerechtigkeit, Antioligarchie und Freiheit zurückgeführt.

Mit seinem revolutionären Charakter war der Euromaidan so grundlegend europäisch, dass er sich als zu europäisch für die heutige EU erwies. Die Ukraine schien ein Test zu sein, den Europa nicht bestanden hat. Doch der Euromaidan ist nicht nur die Geschichte einer bewegten revolutionären Vergangenheit. Er hat es der Ukraine ermöglicht, weiterzuexistieren und dem grauenhaften russischen Angriffskrieg heute wirksam Widerstand zu leisten.

Die Geschichte des Euromaidan zeigt also, dass Revolutionen den Staat in eine fortschrittliche Richtung, weg vom Autoritarismus, verbessern können – und genau aus diesem Grund hat Russland einen Vernichtungskrieg gegen das Land geführt.

Vasyl Cherepanyn

In Wirklichkeit hat die Ukraine drei Euromaidans erlebt – alle waren anders, aber von derselben politischen Absicht geleitet. Der erste im Jahr 2014 war ein revolutionärer Euromaidan, der sich erfolgreich gegen einen autoritären blutrünstigen Angriff auf die Gesellschaft wehrte. Der zweite im Jahr 2019 war ein elektoraler Euromaidan, der eine Person zum Präsidenten machte, die in der Lage war, den Staat in einem existenziell kritischen Moment aufrechtzuerhalten. Und der dritte war ein Euromaidan des Krieges, als das ganze Land zu einer bewaffneten Revolution gegen die russische Militärinvasion im Februar 2022 wurde.

Die Gegenüberstellung von Ersterem und Letzterem ist von zentraler Bedeutung. 2014 richtete sich die soziale Euromaidan-Bewegung gegen einen internen Unterdrücker, den staatlichen Repressionsapparat, der von einem kriminellen Autokraten vereinnahmt wurde. Im Jahr 2022 vereinte sich die Euromaidan-Bewegung mit dem Staat im Widerstand gegen einen externen militärischen Unterdrücker. Die Geschichte des Euromaidan zeigt also, dass Revolutionen den Staat in eine fortschrittliche Richtung, weg vom Autoritarismus, verbessern können – und genau aus diesem Grund hat Russland einen Vernichtungskrieg gegen das Land geführt.

Ukraines Sieg über Russland? Dem Westen ist sein koloniales Erbe im Weg

Der zweite Grund, warum sich der Westen nicht mit einem ukrainischen Sieg über Russland abfinden kann, liegt in seinem eigenen kolonialen Erbe und seiner derzeitigen postkolonialen Position. Der Westen hat seine Erfahrungen mit dem Kolonialismus praktisch in die Vergangenheit verlagert und verschließt die Augen vor den kolonialen Erfahrungen in anderen Teilen des europäischen Kontinents. Das ist zum Teil auf ein schlechtes Gewissen zurückzuführen, aber auch auf die Selbsterkenntnis des Westens und seine direkte Verwicklung in diese anhaltenden Erfahrungen von Unterdrückung. Der Osten Europas ist im westlichen postkolonialen Diskurs unsichtbar, gerade weil er so zentral ist.

Osteuropa, das lange Zeit als Peripherie zwischen den westlichen und russischen Metropolen betrachtet wurde, kämpft seit Jahrzehnten – in einigen Fällen sogar seit Jahrhunderten – mit dem russischen Imperialismus. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg kam die dominante Haltung des Westens gegenüber Osteuropa am besten durch die unzutreffend bezeichnete Ostpolitik Deutschlands zum Ausdruck. Sie mied den eigentlichen Osten, um sich aktiv mit den imperialen Mächten in Moskau auseinanderzusetzen.

Und als die EU ihre Osteuropapolitik, die sogenannte Östliche Partnerschaft, ins Leben rief, wurde sie als eine Politik für periphere „Nachbarschaften“ beschrieben. Den Ländern des postsowjetischen Ostens Europas wurde die funktionale Rolle von Grenzgebieten oder Pufferzonen zugewiesen. Diese verschafften der EU enorme Vorteile bei verschiedenen Lieferungen und Ressourcen, während sie diese Staaten gleichzeitig dem russischen Revanchismus aussetzte. Obwohl die EU die historische Teilung Europas und die politische Isolation des Ostens überwinden wollte, gab sie sich ihrer unterdrückten kolonialen Denkweise hin und trennte sich vom sogenannten unterzivilisierten Secondhand-Osteuropa.

Waffenlieferungen an die Ukraine: Nur die Kolonisatoren dürfen das Recht auf Gewalt voll besitzen

Doch ist Europa ein seltsames Konstrukt – sein Zentrum liegt im Osten, genau dort, wo sich gerade das Schicksal des gesamten Kontinents und darüber hinaus auf dem Schlachtfeld entscheidet. Die mangelnde und von postkolonialen Gewohnheiten bestimmte Bereitschaft der westlichen Metropolen, insbesondere Berlin und Paris, die vollwertige Handlungsfähigkeit der postsowjetischen europäischen Länder anzuerkennen und zu akzeptieren, erklärt das ständige Zaudern und die Verzögerung von Waffenlieferungen an die Ukraine.

Die EU hat die Idee des Friedens so sehr fetischisiert, dass sie die Realität des Krieges völlig verdrängt hat – nur um dann völlig unvorbereitet zu sein, wenn das Verdrängte zurückkommt.

Vasyl Cherepanyn

Eine zentrale Frage ist dabei das Recht auf Gewalt und die Frage, wem es zusteht. Sie war für die Geschichte des Kolonialismus immer entscheidend. Aus hegemonialer Sicht sind es die Kolonisierten, die nicht die nötige Ausrüstung haben sollen, um Gewalt anzuwenden - geschweige denn, um zu gewinnen. Nur die Kolonisatoren dürfen das Recht auf Gewalt in vollem Umfang besitzen und nach eigenem Ermessen darüber verfügen.

Ein dritter Grund für die Befürchtungen des Westens über Folgen eines ukrainischen Sieges hat mit Zeit und dem Krieg selbst zu tun. Der Ausspruch „Nie wieder“, der gemeinsame ideologische Nenner der EU, ist auf pervertierte Weise zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung geworden. Wenn man nämlich den Grundsatz wortwörtlich akzeptiert, dass „so etwas nie wieder vorkommen darf“, dann wird ein Krieg als unmöglich angesehen, weil er trotz der Realitäten vor Ort unvorstellbar ist. Die EU hat die Idee des Friedens so sehr fetischisiert, dass sie die Realität des Krieges völlig verdrängt hat – nur um dann völlig unvorbereitet zu sein, wenn das Verdrängte zurückkommt.

Olaf Scholz‘ Zeitenwende im Ukraine-Krieg: Eigentlich soll alles so bleiben, wie es ist

Es war genau dieser Moment der Ungewissheit, den der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz bekanntlich eine Zeitenwende nannte. In Wahrheit verbirgt sich hinter der Verkündung eines Wendepunktes, insbesondere im Falle Deutschlands, die Absicht, das Gegenteil zu erreichen – dass es besser wäre, wenn alles so bliebe, wie es ist. Der eigentliche politische Name lautet eher „Zeitverschwendung“, denn es ist die Ukraine, die jetzt Zeit für den Westen kauft und dafür jeden Tag einen immensen Preis zahlt.

Kennzeichnend für die ständige Verspätung und Handlungsunfähigkeit des Westens ist, dass die Zeit aus den Fugen geraten ist, um William Shakespeares „Hamlet“ zu zitieren. Es ist eine zutiefst böse Logik, dass ein weiteres Massengrab nötig ist, um die nächste Reihe von Sanktionen gegen einen Angreifer auszulösen oder eine minimale Menge an Waffen an ein Land in großer Not zu liefern.

Die „Zeitenwende“ ist eigentlich eine Form der politischen Selbsttäuschung, die zeigt, wie schwer es dem Westen fällt, wirklich zeitgemäß zu sein und mit den Anforderungen der Gegenwart Schritt zu halten.

Vasyl Cherepanyn

In den letzten sieben Jahrzehnten wurde in der EU viel darüber gesprochen, wie Europa mit seiner Geschichte umgeht und seine Lehren aus der Vergangenheit zieht. Aber was ist Geschichte, wenn nicht das Wissen um die Zeit und die Bedeutung der Zeit, das Wissen, wie man in der Zeit handelt? Wenn man so viel über die Geschichte redet, aber gleichzeitig immer zu spät handelt, stimmt vielleicht etwas mit der Geschichte nicht, die man über sich selbst erzählt. Die Zeitenwende ist eigentlich eine Form der politischen Selbsttäuschung, die zeigt, wie schwer es dem Westen fällt, wirklich zeitgemäß zu sein und mit den Anforderungen der Gegenwart Schritt zu halten.

Ukraine-Krieg: Westen steht vor der Wahl - soll Osteuropa erst erneut zum Schlachtfeld werden?

Das richtige Verständnis von Zeit und Ort ist die Grundvoraussetzung für jedes angemessene politische Handeln. Gewalttätige Ereignisse wie Revolutionen oder Kriege sind besonders zeitabhängig – wenn man nicht rechtzeitig handelt, verschlechtert sich die Situation nur und wird noch gewalttätiger.

Da sich Europa leider bereits im Krieg befindet, wird der Westen unweigerlich entschlossener und direkter handeln müssen. Im Moment zieht Europa es vor, zu glauben, dass sich der Krieg in seiner jetzigen Form hinziehen wird, bei der es keine Bodentruppen von anderen westlichen Nationen gibt. Die eigentliche Wahl, vor der der Westen derzeit steht, lautet jedoch, entweder unverzüglich alle ihm zur Verfügung stehenden militärischen, politischen und wirtschaftlichen Mittel einzusetzen, um die russischen Aggressoren zu besiegen und die Grenzen der Ukraine wiederherzustellen, oder erst dann zu intervenieren, wenn sich diese Aggression anderswo ausgeweitet hat und Osteuropa erneut zum Schlachtfeld geworden ist.

Es ist eine Frage der Zeit. Und es ist in der Tat eine Hamlet‘sche Entscheidung.

„Die Zeit ist aus den Fugen. Weh mir zu denken,
dass ich geboren ward, sie einzurenken!“

Von Vasyl Cherepanyn

Vasyl Cherepanyn ist der Leiter des Kiewer Forschungszentrums für visuelle Kultur, das die Kiewer Biennale organisiert.

Dieser Artikel war zuerst am 21. Februar 2023 in englischer Sprache im Magazin „ForeignPolicy.com“ erschienen – im Zuge einer Kooperation steht er nun in Übersetzung auch den Lesern der IPPEN.MEDIA-Portale zur Verfügung.

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