Gewalt in Israel: „Es zeichnet sich kein Weg aus der Eskalation ab“

Dokumentarfilmer Noam Sheizaf spricht im FR-Interview über die Gewalt in Israel und die Falle, die Netanjahu sich selbst gestellt hat.
Herr Sheizaf, Ihr Film über Hebron, den Sie gerade in Berlin präsentiert haben, heißt „H2: Occupation Lab“, weil „H2“ – der von Israel kontrollierte Teil der palästinensischen Stadt, in dem 800 Siedler:innen leben – ein Testlabor für Militärkontrolle sei, die danach meist in anderen Teilen der Westbank angewendet werde. Aber wer ist die treibende Kraft dabei: die Armee oder die Siedlerbewegung?
Die Siedlungen sind ein von der israelischen Regierung gesponsertes Projekt. Sie sind wie die Armee Teil der Besatzung. Das lässt sich nicht trennen. Auch wenn manchmal Siedler und Soldaten aneinandergeraten.
Der Rechtsextremist Itamar Ben-Gvir, inzwischen Minister für Nationale Sicherheit in Israel, ist der wohl bekannteste Siedler in Hebron. Sie nennen ihn ein „Produkt der Besatzung“. Bitte erklären Sie das genauer.
Ben-Gvir ist Mitte 40 und aufgewachsen in Hebron. Die psychologische und emotionale Erfahrung, die auch der Film vermittelt, wonach Juden Vorrang gegenüber Palästinensern besitzen, die keine Rechte haben und zwangsweise beherrscht werden, trägt Ben Gvir in sich. Diese Ordnung der Dinge bringt er in die Knesset und die Regierung. Ben-Gvir hat sie nicht erfunden. Aber seine rassistische und zur Gewalt neigende Gedankenstruktur reflektiert die Umgebung, in der er groß geworden ist. Eine Umwelt jüdischer Vorherrschaft. Natürlich sind nicht alle Siedler so, manche lehnen das strikt ab. Aber Ben-Gvir ist ein Paradebeispiel. Durch Leute wie ihn verbreitet sich die Mentalität der Besatzung in Israel krebsartig.
Umso überraschender ist die große und ausdauernde Protestbewegung, die gegen Vorhaben der ultrareligiösen, ultrarechten Regierung wie etwa deren Angriff auf eine unabhängige Justiz seit neun Wochen auf die Straße geht. Wie erklären Sie das?
Bislang waren die Leute aus der politischen Mitte und links davon in der Lage, eine Trennlinie zwischen sich und der Besatzung zu ziehen. Das Leben in den nördlichen Bezirken von Tel Aviv blieb davon unberührt. Aber inzwischen sind die religiösen nationalrechten Parteien so stark, dass die von ihnen angestrebte Gesellschaftsordnung auch die säkulare und liberale Öffentlichkeit tangiert. Sie sieht ihren „way of life“ durch Kräfte gefährdet, die auf das ganze Land übergreifen.
Kurz gesagt, es geht um die Verteidigung der Demokratie?
Demokratie ist ein abstrakter Begriff. Die Leute protestieren eher gegen konkrete Bedrohungen ihrer Lebensart, ihrer Werte oder auch der LGBT-Gemeinschaft, die in Tel Aviv sehr stark ist. Und auch, weil ihnen eine Menge Hass und Verachtung seitens der Regierung entgegenschlägt. Oft ist auf den Demos zu hören: „Die Ultra-Orthodoxen leisten keinen Wehrdienst, aber machen uns Vorschriften. Das akzeptieren wir nicht länger. Wenn wir diesen Kampf nicht gewinnen, haben wir keine Zukunft in Israel.“
Teilen Sie diese Ängste oder liegt in der Krise nicht auch eine Chance?
Zur Person
Noam Sheizaf, 48, ist israelischer Filmemacher, Journalist und Mitgründer des linken Online-Magazins „972“. Er gehört zu den aktiven Unterstützern der Protestbewegung gegen Gesetzesvorhaben der ultrarechten Regierung Benjamin Netanjahus, um die Justiz auf Linie zu bringen.
Sein Dokumentarfilm „H2: Occupation Lab“, den Sheizaf zusammen mit der Regisseurin Idit Avrahami über die Entwicklung der israelischen Militärherrschaft in Hebron gemacht hat, wurde ebenfalls von Regierungsseite attackiert. Seine Forderung nach Rückzahlung von Fördergeldern musste Kulturminister Miki Zohar inzwischen zurückziehen. geg
Beides. Die Dinge laufen in Israel schon lange in eine negative Richtung. Jetzt, da die Menschen aufstehen, gibt es endlich eine Gelegenheit für größere Veränderungen, die die israelische Gesellschaft braucht. Gleichzeitig fürchte ich die Konsequenzen dieser Konfrontation, falls wir verlieren. Und selbst wenn wir gewinnen, wird die andere Seite das nicht müßig akzeptieren. Ich sehe die Risiken, nicht zuletzt als Vater dreier Kinder, die in ein paar Jahren von der Armee eingezogen werden.
Israels Hightech-Sektor schafft bereits größere Geldmengen ins Ausland, Reservisten melden sich aus Protest nicht zum Dienst und Ex-Kommandierende der Luftwaffe unterzeichnen Protestbriefe an den Premier. Sogar unter den Geheimdienstlern im Mossad und Schin Beth rumort es. Wie sehr steht die Regierung Benjamin Netanjahu unter Druck?
Weit mehr als erwartet. Der Druck auf die Regierung kommt allerdings sowohl von den Rechtspopulisten, die Justizreform voranzubringen, als auch von der liberalen Mitte, sie zu stoppen. Die Regierung ist zweifellos nervös und weiß nicht recht weiter. Eine komplizierte Lage auch deshalb, weil Netanjahu unter Korruptionsanklage steht, die rechtsextremen Parteien sehr mächtig sind und die orthodoxen Parteien ihre eigenen Motive haben, den Obersten Gerichtshof zu beschneiden. Viele in der Protestbewegung wiederum fürchten einen weichen Kompromiss, der der Regierung erlaubt, ihre Politik vier weitere Jahre fortzusetzen.
Zu alldem wächst die Gewalt im Westjordanland. In der palästinensischen Jugend gelten Militante wieder als Helden. Und ein bewaffneter Siedlermob steckte kürzlich in Hawara fast ein ganzes Dorf in Brand, ohne dass die Armee dazwischenging. Was heißt das für die Regierungskrise in Israel?
Schon letztes Jahr war das tödlichste für Palästinenser seit der zweiten Intifada. Die Besatzung ist immer ein Gewaltregime, auch wenn man in den Nachrichten wenig davon hört.

2022 gab es in Westbank etwa 150 palästinensische Tote.
Ja, und dieses Jahr waren es bereits über 60. Neu ist, dass es zunehmend jüdische Opfer von palästinensischem Terror gibt, auch das setzt die Regierung Netanjahu unter Druck. Anders als in der ersten und zweiten Intifada zeichnet sich aber kein Weg ab, aus der Eskalation rauszukommen. Die israelische Koalition ist zu extrem und der palästinensische Autonomieführung traut das eigene Volk nicht mehr. Ich vermute, unsere Regierung wird auf noch mehr Gewalt setzen.
Das klingt wie ein Ruf nach internationaler Einmischung seitens der USA und Europa.
Ja, ich glaube, internationale Einmischung im Sinne einer Zurückweisung der populistischen und rassistischen Agenda von Leuten wie Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotritsch kann viel ausrichten, um die Gewalt einzudämmen. Zugunsten von Israelis und Palästinensern.