Ermahnung aus Washington

US-Außenminister Antony Blinken versucht, Netanjahu diplomatisch die Leviten zu lesen. Die Palästinenser erwarten vom Mann aus den USA aber wenig bis nichts.
Was Israel und die USA miteinander verbinde, seien ihre „gemeinsamen Werte“, sagte Secretary of State Antony Blinken in Jerusalem – und ging sogleich dazu über, exakt jene demokratischen Grundfesten aufzuzählen, die das ultrarechte Kabinett unter Benjamin Netanjahu bekämpfen will: Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit, Gewaltenteilung und Schutz von Minderheiten. In all diesen Bereichen plant die Koalition drastische Einschnitte, und zuallererst bei der Justiz. In ungewöhnlich konkreter Weise sprach US-Chefdiplomat Blinken diese Pläne an. Er regte an, dass Netanjahu sich eine „breite Mehrheit“ für die Justizreform suche.
Man könnte das als diplomatische Ermahnung verstehen. Netanjahu hingegen versuchte zu beruhigen: Israel und die USA seien „zwei starke Demokratien, die auch weiterhin, das versichere ich Ihnen, zwei starke Regierungen bleiben werden“.
Wenn Blinken von Werten spricht, muss er sich von Kritiker:innen der israelischen Besatzung aber auch vorwerfen lassen, dass die Vereinigten Staaten mit zweierlei Maß messen. Der Vergleich mit der Ukraine kommt oft auf, wenn es um die schleichende Annexion der von Israel besetzten und verwalteten Gebiete geht. Netanjahus Regierung will massiv in den Ausbau der Siedlungen und in die Infrastruktur drum herum investieren. Umgerechnet 1,9 Milliarden Euro fließen in den Ausbau der Straßen, die diese Siedlungen untereinander und mit Israel verbinden. Das geht zulasten der palästinensischen Infrastruktur, oftmals werden einzelne Dörfer und Städte voneinander abgeschnitten. Die Regierung plant zudem weitere Steuererleichterungen für Israelis, die beschließen, sich im Westjordanland niederzulassen. Eine solche gezielte Besiedlung von okkupiertem Territorium durch die Besatzungsmacht gilt als schwerer Völkerrechtsbruch. Was die schleichende Annexion betrifft, blieb Blinken jedoch äußerst vage. Er sprach sich einmal mehr für die Zwei-Staaten-Lösung aus. Konkrete Sanktionen für jene Schritte Israels, die eine solche Lösung mehr und mehr unmöglich machen, sprach er nicht an.
Vor seinem Treffen mit dem Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas am Dienstagnachmittag waren die palästinensischen Erwartungen äußerst gering. „Den USA ist das Wohlergehen der Palästinenser doch egal“, sagt Dimitri Dilani, Sprecher einer Abbas-kritischen Fraktion der Fatah. Der Anschlag auf die Synagoge am Freitag sei von Blinken konkret verurteilt worden, der Einsatz der israelischen Armee in Dschenin hingegen nicht. „Das ist nicht diplomatisch, das ist feige“, meint Dilani.
Der Besuch kommt in einer äußerst angespannten Phase. In den vergangenen 30 Tagen kam in der Westbank durchschnittlich jeden Tag ein Mensch bei einem Armeeeinsatz ums Leben. Am Freitag schoss dann ein Palästinenser wahllos auf Synagogenbesucher:innen in Jerusalem, sieben Menschen verloren dabei ihr Leben. Das war der schwerste Anschlag seit 15 Jahren, seit Ende der zweiten Intifada. Daraufhin wurden im Westjordanland mindestens 30 gewaltsame Übergriffe der Siedler:innen auf Ansässige registriert.
Angst vor dem Iran
Blinken appellierte an „beide Seiten, die Welle der Gewalt zu stoppen“. Israel und die Palästinenserbehörde seien aufgerufen, „Bedingungen zu schaffen für die Sicherheit und Stabilität, die Israelis und Palästinenser gleichermaßen verdient haben“, sagte Blinken in Jerusalem.
Blinken gestand schon bei seiner Ankunft, dass dieser in eine „sehr schwierige Zeit“ falle. Zu der Eskalation zwischen Israel und den Palästinensern kommt hinzu, dass die dauergespannte Lage im Iran durch jüngste Vorfälle angezündet wurde. Drei Drohnenangriffe auf iranische Ziele, einer davon auf eine Waffenfabrik in Isfahan, werden Israel zugerechnet. Wenn dem so ist, dann wären die USA in die Pläne dieser Operationen eingeweiht gewesen, und man muss damit rechnen, dass Teheran mit Racheakten reagiert.