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Erinnern an den Terror in Hanau: „Kein Zurück in die Normalität“

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Von: Ramona Lenz

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Der Laden in der Krämerstraße ist „ein Ort ständigen und lebendigen Erinnerns“, sagt Newroz Duman.
Der Laden in der Krämerstraße ist „ein Ort ständigen und lebendigen Erinnerns“, sagt Newroz Duman. © Michael Schick

Die Initiative 19. Februar setzt sich dafür ein, dass der Terror von Hanau nicht vergessen wird. Mit Aufklärungsarbeit, Gedenkorten und einem Mahnmal setzen sie symbolische Zeichen. Doch warum das noch nicht genügt, erzählt Sprecherin Newroz Duman im Interview.

In Kürze jährt sich der rassistische Mordanschlag in Hanau zum zweiten Mal. Ihr habt bereits wenige Wochen nach der Tat einen Laden in der Krämerstraße, in unmittelbarer Nähe zu einem der Tatorte, angemietet, wo Angehörige, Freund:innen und andere zum Reden, Schweigen und Trauern zusammenkommen können. In diesem Raum habt ihr schon sehr früh vier zentrale Forderungen formuliert: Erinnerung, Aufklärung, Gerechtigkeit, Konsequenzen. Erinnerung steht dabei an erster Stelle. Warum ist euch das Erinnern so wichtig?

Die Erinnerung ist die Voraussetzung für alles andere. Ohne Erinnerung keine Aufklärung und keine Veränderung. In der Geschichte dieses Landes steht aber oft das Vergessen im Vordergrund. Man möchte nicht an rechte Gewalt erinnern, sondern schnell zurück zur Normalität. Auch in Hanau gab es nicht einmal sechs Monate nach dem rassistischen Mordanschlag vom 19. Februar 2020 Stimmen, die forderten: Hanau muss zurück zur Normalität. Ein weißer, von Rassismus selbst nicht betroffener CDU-Politiker sagte damals: Das Erinnern gehört auf den Friedhof.

Was habt ihr geantwortet?

Die Familien der Opfer haben erwidert: Nein, das Erinnern gehört ins Zentrum. Alle müssen sich damit auseinandersetzen. Das wurde zum Glück von städtischer Seite bekräftigt. Es gibt aber nach wie vor immer wieder Stimmen, die sagen, es reicht, es gab genug Aufmerksamkeit, wir wollen nach vorne schauen. Es sind oft dieselben, die fragen: Was ist mit diesen oder jenen Opfern? Was ist mit „unseren“ Opfern? Dann kommt gern der Verweis auf Anschläge wie den am Breitscheidplatz in Berlin und auf Gewalt, die von Migrant:innen und Geflüchteten ausgeht. Eine solche Opferkonkurrenz aufzumachen, ist letztlich nichts anderes als ein Vorwand für Rassismus gegen Migrant:innen und Geflüchtete.

Du meinst, dass über das Erinnern und Vergessen Zugehörigkeit definiert wird?

Genau. Am Erinnern und Vergessen sieht man, wie die Gesellschaft sich mit den Folgen einer rassistischen Tat identifiziert oder eben nicht. Es geht immer auch um die Frage: Wer ist betroffen? Wer ist durch rechte Gewalt bedroht? Es ist noch nicht lange her, dass Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus von der Regierung gar nicht als ernsthafte Bedrohung für die Sicherheit in Deutschland wahrgenommen wurden. Inzwischen musste aber selbst der ehemalige Innenminister Horst Seehofer zugeben, dass rechte Gewalt ein Problem in diesem Land ist. Er hat zwar nicht viel dagegen getan, aber er hat es anerkannt. Dass wir uns schon darüber freuen, dass ein Innenminister rechte Gewalt überhaupt beim Namen nennt, zeigt, wo wir stehen. Deshalb ist es auch keine Selbstverständlichkeit, dass die Gesichter und die Namen der Opfer vom 19. Februar in der Öffentlichkeit noch so präsent sind.

Sprecherin Newroz Duman mit Gründerin der Initiative Serpil Temiz Unvar (re.).
Sprecherin Newroz Duman mit Gründerin der Initiative Serpil Temiz Unvar (re.). © Renate Hoyer

Die von euch erhobene Forderung „Say their names“ hat maßgeblich dazu beigetragen, dass nicht die Täterperspektive im Zentrum der Berichterstattung stand, sondern die Namen und Geschichten der Opfer. Würdest du sagen, hier wurde aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt?

Auf jeden Fall. Insbesondere im Rahmen des NSU-Komplexes wurde immer wieder gesagt: Hört den Betroffenen zu, den Opfern, und stellt nicht immer die Täterperspektive so krass ins Zentrum. Ich denke, wir als Initiative, als Aktivist:innen, als Zivilgesellschaft haben daraus gelernt. Hanau war nicht der erste Anschlag und wird nicht der letzte sein. Wir hatten kein Konzept. Es ging darum, einen Raum zu öffnen, zuzuhören und nach Bedürfnissen zu schauen. Alles weitere entwickelt sich daraus, es werden gemeinsam Entscheidungen getroffen und Aktionen organisiert.

Wie sah das dann bei euch praktisch aus?

Hanau ist eine kleine Stadt. Viele der Opfer kannten sich. Wir konnten uns sehr schnell organisieren und diesen Raum zur Verfügung stellen. Im Lockdown war der Laden in der Krämerstraße die einzige Anlaufstelle für die Leute. Und aus dieser Anlaufstelle, die so offen war und so niedrigschwellig, hat sich alles entwickelt. Weil es Menschen gab, die zugehört haben, täglich, stundenlang. Und die dann auch mitgemacht und mitrecherchiert haben, die einfach da waren.

Wie ist die Idee für den Laden in der Krämerstraße entstanden?

Die Idee eines Ortes, an dem Menschen zusammenkommen können, hat sich in der ersten Woche schon entwickelt. Es war klar, es musste ein Raum sein, der nicht schon von anderen Themen besetzt ist, sondern leer ist und offen für alle. Ein Raum, in dem zugehört wird und in dem man füreinander da ist. Der Raum, den wir dann gefunden haben, war wirklich leer. Es waren 140 Quadratmeter Leere, in die wir einen Tisch gestellt haben und vier Stühle. Das war’s. Wir haben ihn am 21. März 2020 aufgemacht und über anderthalb Jahre keinen einzigen Tag geschlossen, erst kürzlich zwischen den Jahren mal. Sonst ist der Raum immer offen.

Veranstaltung „Der Utopische Raum“

„Erinnern heißt verändern“ ist der Titel einer Veranstaltung in der Reihe „Der utopische Raum“, bei der das Gespräch über Hanau und die Folgen fortgesetzt und vertieft werden soll. Neben Newroz Duman diskutieren die Soziologin Onur Suzan Nobrega und der Theaterregisseur Nuran David Calis. Die Moderation übernimmt Ramona Lenz.

Wie ist Gedenken möglich, wenn die Gesellschaft schweigt? Was müssen die Betroffenen tun, um auf ihre Trauer und ihre Erfahrungen aufmerksam zu machen? Neben diesen Fragen soll es vor allem auch darum gehen, wie sich die Erinnerung an rassistische Taten in das vielstimmige kulturelle Gedächtnis einer ganzen Gesellschaft einfügen lässt.

Die Diskussion beginnt am Donnerstag, 27. Januar um 19 Uhr im Osthafenforum im Medico-Haus, Lindleystraße 15. Es gelten die 2G-plus-Regeln, Einlass ist ab 18.30 Uhr, um rechtzeitiges Erscheinen wird gebeten. Als Livestream wird die Veranstaltung auf dem Youtube-Kanal von Medico international übertragen.

Die Initiative „Der utopische Raum“ ist eine Kooperation der Stiftung Medico international mit dem Institut für Sozial- forschung und der Frankfurter Rundschau.

Wie würdest du beschreiben, was dort jetzt geschieht?

Es ist ein Ort ständigen und lebendigen Erinnerns. Dieses Erinnern ist genauso wie die Angehörigen selbst vielstimmig und vielfältig. Es gibt Leute, die jeden Tag hier sind, andere kommen nur ab und zu. Den einen ist es wichtig, dass es eine Gedenkecke mit Bildern gibt, die anderen wollen lieber keine Bilder. Es gibt natürlich auch Konflikte, aber das gehört dazu. Bei den wichtigen Dingen versuchen wir immer, einen gemeinsamen Nenner zu finden.

Der Laden ist aber nicht der einzige Ort in Hanau, an dem an die Opfer des rassistischen Mordanschlags erinnert wird.

Schon in den ersten Tagen nach dem Anschlag haben sich die Tatorte, aber auch die Brüder-Grimm-Statue auf dem Marktplatz zu Gedenkorten entwickelt, wo die Namen aufgelistet, Kerzen aufgestellt und Blumen niedergelegt wurden. Bald stellte sich die Frage: Wer kümmert sich denn eigentlich um die informellen Gedenkorte? Wenn sich niemand dafür verantwortlich fühlt, sieht das nach ein paar Wochen wie ein Müllhaufen aus. Das wollten wir nicht. Wir haben aufgeräumt, wir haben alles, was kaputt war, weggeschmissen. Dann haben wir angefangen, zweimal in der Woche Blumen zu besorgen vom Markt, und haben gemeinsam mit den Angehörigen Bilder ausgesucht und Gedenktafeln angebracht. Seitdem pflegen wir die Gedenkorte am Heumarkt und in Kesselstadt. An jedem 19. des Monats gibt es ein gemeinsames Gedenken.

Inzwischen gibt es neben den Gedenktafeln der Initiative auch offizielle Gedenktafeln, die die Stadt in Rücksprache mit den Angehörigen an den Tatorten angebracht hat. Außerdem soll es noch ein offizielles Mahnmal geben. Über den Standort herrscht allerdings Uneinigkeit.

Es gab einen Wettbewerb für das Mahnmal und es kamen unglaublich viele Vorschläge aus aller Welt. Die Familien waren maßgeblich am Auswahlprozess beteiligt. Schon ganz am Anfang haben sie gesagt: Das Mahnmal muss einen zentralen Platz in der Stadt bekommen. Es muss sichtbar sein. Unsere Kinder gehören in die Mitte der Stadt. Und der Marktplatz mit der Brüder-Grimm-Statue ist nun mal der zentrale Platz in dieser Stadt. Dieser Platz ist allerdings noch nicht akzeptiert worden. Deshalb kann ich nur hoffen, dass es bald eine Einigung gibt. Die Stadt Hanau hat sich in so vielen Punkten würdig gegenüber den Opferfamilien verhalten und dem Gedenken an den 19. Februar den gebührenden Raum gegeben. Sie sollte es bei der Standortfrage für das Mahnmal jetzt nicht unnötig zu einem Konflikt mit den Angehörigen kommen lassen.

Die Forderung hinter der Kampagne #SayTheirNames: Opfer statt Täter in den Vordergrund der Berichterstattung stellen.
Die Forderung hinter der Kampagne #SayTheirNames: Opfer statt Täter in den Vordergrund der Berichterstattung stellen. © Michael Schick

Erinnern heißt verändern, sagt ihr. Was würde sich durch ein solches Mahnmal ändern?

Es ist gut und wichtig, Mahnmale an zentralen Orten zu haben, die dauerhaft da stehen, aber die meisten laufen einfach daran vorbei. Nur wenige nehmen diese Mahnmale wirklich wahr. So ist das nun mal. Da passiert nicht viel. Symbolische Akte sind nicht unwichtig, aber sie ändern nicht viel. Damit Erinnerung zu Veränderung führt, braucht es mehr als symbolische Kranzniederlegungen einmal im Jahr. Viel wichtiger ist es, in Kontakt zu sein mit Betroffenen und auf wirkliche Veränderung hinzuwirken, damit sie sich auch ernst genommen fühlen. Man muss ernst nehmen, was passiert ist, und daraus Konsequenzen ziehen.

Zur Person

Newroz Duman ist Sprecherin der Initiative 19. Februar in Hanau, in der sich die Angehörigen der Opfer des rassistischen Anschlags vom 19. Februar 2020 organisiert haben. Sie arbeitet außerdem als Traumapädagogin, Referentin in der politischen Bildungsarbeit, im Vorstand von Pro Asyl sowie bei dem Flüchtlingsprojekt „Jugendliche ohne Grenzen“.

Mit der Interviewerin Ramona Lenz von Medico international ist sie durch die gemeinsame Beschäftigung mit dem Thema Migration gut bekannt, weshalb sich die beiden duzen.

Hast du den Eindruck, es hat sich etwas verändert in den letzten Jahren oder Jahrzehnten?

Die Kontinuität der Kämpfe, insbesondere der migrantischen und selbstorganisierten Kämpfe, hat dazu geführt, dass man die Augen nicht mehr verschließen kann, vor Rassismus und Antisemitismus in dieser Gesellschaft. Allerdings muss man festhalten: Das Problem wird jetzt zwar nicht länger unter den Teppich gekehrt. Es wird benannt, das ist ein Schritt nach vorne, aber wenn es um Taten und Konsequenzen geht, hat sich nicht viel getan. Wir reden über die Veränderung von Strukturen und von Machtverhältnissen.

Was meinst du damit?

Auch wenn der Täter alleine geschossen hat, ist er einer Ideologie gefolgt. Er wollte säubern. Und das hat mit der Hetze in der Gesellschaft und durch die Politik zu tun, mit der Hetze gegen Shishabars und Migrant:innen und damit, dass führende Politiker:innen die Migration als Mutter aller Probleme bezeichnen. Wenn Institutionen wie Polizei und Staatsanwaltschaften den Täter im Vorfeld der Tat nicht ernst genommen haben, obwohl er durchaus auf sich aufmerksam gemacht hat, verweist das auf ein strukturelles Problem.

Nämlich?

Rassistische Bedrohungslagen werden nicht erkannt und rechte Straftaten nicht verhindert, selbst wenn es genügend Hinweise gibt. Stattdessen häufen sich Meldungen über rechte Chatgruppen bei der Polizei. Solange Rassismus der Normalzustand ist, gibt es für uns kein Zurück zur Normalität. Wenn wir wollen, dass alle in dieser Gesellschaft ihren Platz haben, dass alle dazu gehören, dann heißt das, dass wir alle uns an die rechte Gewalt erinnern müssen, die in diesem Land in den letzten Jahrzehnten geschehen ist, nicht nur in Hanau. Erinnerung ist mehr als Trauerbewältigung, Erinnerung ist auch eine Mahnung zur Veränderung. Wer mit dem rassistischen Normalzustand nicht einverstanden ist, muss erinnern und auf Veränderung hinwirken.

Interview: Ramona Lenz

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