Erdbebendiplomatie an der Ägäis

Nach der Katastrophe könnte es eine Chance zur Annäherung zwischen der Türkei und Griechenland geben – stünden dem nicht Erdogans Politik und Interessen entgegen
Griechenland hat mit seiner spontanen Hilfe beim Erdbeben in der Türkei viele Sympathien gewonnen. Aber öffnet sich damit auch eine Tür zur Annäherung zwischen den Regierungen der beiden Länder? Darum geht es auch beim Besuch des US-Außenministers Antony Blinken, beiderseits der Ägäis.
„Es sind Bilder, die wir nie vergessen werden“, sagt der griechische Feuerwehrmann Kostas Athanasopoulos. Eine Woche war er als Retter im Katastrophengebiet in der Südosttürkei im Einsatz, in der schwer verwüsteten Stadt Antakya. Fünf Menschen konnte das griechische Rettungsteam lebend befreien. Als die Männer vergangene Woche ihre Arbeit beendeten und nach Griechenland zurückflogen, gingen sie durch ein Spalier applaudierender Menschen zu ihrem Abfluggate. Die regierungsnahe Tageszeitung „Hürriyet“ schrieb in großen Lettern auf Griechisch: „Efharisto poli file“ – „Vielen Dank, Freunde!“
Die Katastrophe hat die beiden teils zerstrittenen Völker einander nähergebracht. Was machen nun die Politiker? Ergreifen sie die Chance zu einer Annäherung? Griechenland und die Türkei sind schwierige Nachbarn. Es gibt ständige Spannungen, vom Streit um Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer bis zu den Hoheitsrechten in der Ägäis.
Nähe durch Erschütterung
Aber es gab auch immer wieder Phasen der Entspannung. Wie im Sommer 1999, als nacheinander schwere Erdbeben erst die Nordwesttürkei und drei Wochen später die griechische Hauptstadt Athen erschütterten. Damals halfen griechische Retter in der Türkei, und türkische Rettungsmannschaften eilten wenig später nach Griechenland. Wogen des Mitgefühls und der Hilfsbereitschaft gingen durch beide Völker. Die Außenminister der beiden Länder setzten sich an einen Tisch und vereinbarten vertrauensbildende Maßnahmen. Das Wort von der „Erdbebendiplomatie“ war geboren.
Ist jetzt eine Neuauflage einer solchen Annäherung denkbar? Das will US-Außenminister Antony Blinken sondieren, der am Sonntag in der Türkei eintraf und am Dienstag in Athen erwartet wird. Die USA bemühen sich um eine Vermittlung, denn der griechisch-türkische Dauerkonflikt schwächt die Ostflanke der Nato. Auch in Athen hofft man auf eine Entspannung. Als einer der ersten ausländischen Regierungschefs rief der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis nach dem Beben den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan an, um zu kondolieren.
In einem Interview sagte Mitsotakis, er glaube zwar nicht, dass ein Land wie die Türkei ihre Außenpolitik „von einem Moment zum nächsten“ ändere. Aber nach der Katastrophe gebe es „ein Klima der emotionalen Nähe zwischen den beiden Völkern“. Er fühle sich persönlich verpflichtet, das für eine Annäherung zu nutzen, so Mitsotakis.
Der griechische Außenminister Nikos Dendias reiste ins Katastrophengebiet und wurde dort von seinem türkischen Kollegen Mevlüt Çavusoglu mit einer Umarmung empfangen. „Wir sollten nicht bis zum nächsten Erdbeben warten, um unsere bilateralen Beziehungen zu verbessern“, sagte Çavusoglu. Er sprach von „einer neuen Seite“ im Verhältnis zu Griechenland und versicherte: „Wir wollen Stabilität und Frieden in unserer Region.“
Nutzt Erdogan Feindbilder?
Ob sich dieser Wunsch erfüllt, hängt vor allem vom türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan ab. Doch der schweigt bisher zum Thema Griechenland. Noch wenige Wochen vor dem Erdbeben drohte er mit Raketenangriffen auf Athen. Erdogan kultivierte das Feindbild Griechenland. Jetzt könnte er es mehr denn je gebrauchen. Spätestens in vier Monaten stehen Parlaments- und Präsidentenwahlen in der Türkei an. Erdogan gerät unter Druck, die Kritik am Krisenmanagement der Regierung wird lauter.
So könnte der Präsident versuchen, mit neuen Verbalattacken gegen den „äußeren Feind“ Griechenland von eigenen Versäumnissen abzulenken. In diese Kerbe schlägt bereits der türkische Admiral a.D. Cihat Yayci, ein prominenter Vordenker der expansionistischen Außenpolitik Erdogans. Er äußerte den Verdacht, eigentliche Absicht der griechischen Katastrophenhelfer sei es nicht gewesen, Menschenleben zu retten, sondern militärische Ziele in der Türkei auszuspionieren.