„Hasskampagnen“ in der Türkei - Berichte von Gewaltexzessen nach Erdbeben
Die Anwältin und Frauenrechtlerin Asli Pasinli spricht im Interview darüber, warum nach dem Erdbeben in der Türkei nicht alle Opfer Zugang zu Hilfe haben.
Frau Pasinli, wie sehen Sie die Situation in Diyarbakir im Moment?
Die Zahl der Todesopfer in Diyarbakir steht noch nicht fest, da noch immer Menschen unter den Trümmern gesucht werden. Diyarbakir hat fast 1,8 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, und derzeit lebt eine große Anzahl davon auf der Straße oder in Zelten. Auch das Haus meiner Familie wurde zerstört, meine Angehörigen leben jetzt in Zelten. Es gibt nach dem Erdbeben in der Türkei noch keine Schadensbewertung. Meine Familie hat wie viele andere erst vor zwei Tagen ein Zelt bekommen. Es gibt noch keine funktionierende Heizung.
Welche Gruppen haben nach Ihrer Beobachtung im Erdbebengebiet besondere Schwierigkeiten?
Wenn wir die Zelte hier besuchen, ist es natürlich für alle sehr schwierig, aber das Ausmaß des Leidens ist für einige Gruppen, die wir als benachteiligte Gruppen bezeichnen, noch größer: nämlich Frauen, Kinder, LGBTiQ+-Menschen, behinderte Menschen und Ältere. Ein Freund von mir, der in Adiyaman war, hat zum Beispiel beobachtet, dass viele Familien ihre behinderten Kinder verlassen haben. Die Verzweiflung geht so weit, dass die Menschen sogar ihre eigenen Kinder verlassen. Seit dem Erdbeben sind außerdem Hunderte Kinder geboren worden. Wir hören auch von entführten Kindern. Es fehlt an Aufsicht und Kontrolle, sodass eine Situation entsteht, in der die Gefahr des Missbrauchs von kleinen Kindern erhöht ist.

Erdbeben in der Türkei: Berichte über Gewalt an Frauen in Zeltstädten
Sie arbeiten auch in einer Frauenhilfsorganisation. Welche Probleme sehen Sie speziell für Frauen im Erdbebengebiet?
Wir sehen, dass in den Zelten die Geschlechterrollen wieder verstärkt werden. Die Frauen kümmern sich um die Pflege und die Bedürfnisse der Kinder, der älteren Menschen und des gesamten Haushalts. Ich habe bei vielen Frauen ein sehr hohes Maß an Nervosität festgestellt, sie waren vom ersten Tag an sehr besorgt um ihre Kinder. Die Frauen kümmern sich dazu noch um die Versorgungslücken in den Zelten, wie zum Beispiel den Zugang zu Nahrung, das Waschen der Wäsche im Zelt oder das Heizen. Nach und nach hört man aus den Zeltlagern Berichte über Gewalt. Ansonsten brauchen Frauen Hygieneprodukte für ihre Menstruation, schwangere Frauen haben mit Infektionen zu kämpfen. Es gibt Frauen, die aufgrund der Wetterbedingungen Fehlgeburten erlitten haben.
Wie ist die Situation für Geflüchtete und queere Menschen?
Es ist eine sehr starke Hasskampagne gegen Syrerinnen und Syrer zu beobachten. Hunger macht die Menschen aggressiv, und es gibt zwischen Syrer:innen und türkischen Bürger:innen in den Zeltstädten Spannungen. Es mangelt bereits jetzt an politischer Handlungsfähigkeit, und ich bin ehrlich gesagt besorgt, dass sich diese Polarisierung vertiefen und zu einem sozialen Konflikt führen wird. Vor allem aus Hatay gibt es Bilder von Gewalt gegen Geflüchtete seitens der Polizei. Wir hören, dass LGBTIs Probleme mit dem Leben in Gemeinschaftsräumen und dem Zugang zu Hilfe haben. Hassdelikte, Ausgrenzung, Diskriminierung können in einem solchen Zustand zu Attacken führen. Denn eine wirklich unsichere Umgebung macht die Menschen für Angriffe anfälliger.

Nach dem Erdbeben in der Türkei: „Die Menschen haben Angst vor dem Reisen“
Welche rechtlichen Probleme sehen Sie als Anwältin?
Die Beerdigung von verstorbenen Bürger:innen ohne Identifizierungsverfahren ist ein großes Problem. Insbesondere bei den Leichen, die in die Krankenhäuser und Leichenhallen kommen, werden nur Fingerabdrücke genommen. Aufgrund des Fehlens einer korrekten Identifizierung erwarten uns viele rechtliche Probleme. Es ist sehr wahrscheinlich, dass einige irreversible Schäden in Bereichen wie Sorgerecht, Erbrecht, Entschädigung, soziale Sicherheit und Verwaltungsverfahren entstehen werden. Daher sollte die Bedeutung dieser Fragen von Nichtregierungsorganisationen und juristischen Organisationen betont werden, und die Türkei sollte an ihre Verantwortung in dieser Hinsicht erinnert werden. Denn wenn die Verfahren nicht ordnungsgemäß durchgeführt werden, kann es zum Beispiel zu Problemen bei der Strafverfolgung von Täter:innen kommen.
Auf welche weiteren Probleme stoßen Sie?
Die Menschen haben Angst vor dem Reisen, vor Straßensperren oder davor, dass ihnen auf der Straße etwas passiert. In der Türkei gibt es derzeit ernsthafte Sicherheitsbedenken. Denn einerseits können wir immer noch nicht um die Toten trauern, wir alle machen uns immer noch Sorgen um die Angehörigen, andererseits gibt es Probleme bei einem gleichberechtigten Zugang zur grundlegenden Versorgung. Wenn man zu all dem noch Sicherheitsbedenken hinzufügt, wird klar, welchen intensiven Druck die Menschen fühlen.
Erdbeben in der Türkei: Was nun benötigt wird
Welchen Mängeln begegnen Sie bei den Grundbedürfnissen?
Die Solidarität in der Türkei und im Ausland war bisher sehr groß. Es gibt aber keinen gleichberechtigten Zugang zur Hilfe. Im Falle von Naturkatastrophen gibt es einen schrittweisen Bedarf. Erstens: Unterkunft, Heizung und Nahrung. Aber dann kommt der Bedarf der Menschen an Hygieneprodukten ins Spiel. Zurzeit gibt es ein Problem mit der Hygiene: An den Versammlungsorten haben die Menschen oft keinen Zugang zu Toiletten, und diejenigen, die Zugang haben, benutzen eine einzige Toilette. Dies kann Krankheiten und Epidemien auslösen. Wir haben uns noch keine Gedanken über Duschen gemacht, weil wir das Toilettenproblem noch nicht gelöst haben. Aber die Menschen hier haben schon seit einer Woche nicht mehr geduscht. Die Gemeinschaftsräume sind auch nicht hygienisch. Es gibt das Problem, dass viele nach einer Woche nicht einmal frische Unterwäsche erhalten. Viele gesundheitliche Probleme scheinen zurzeit unvermeidlich zu sein.