„Apokalyptische Zustände“ nach Erdbeben in Syrien: Nutzt Assad die Lage aus?
Nach dem Erdbeben herrschen in Syrien dramatische Zustände. Hilfe dringt derzeit kaum durch - und Diktator Assad kann offenbar sogar von der Katastrophe profitieren.
Aleppo/Dschinderes - Für die Weltgesundheitsorganisation ist es die schlimmste Naturkatastrophe in Europa seit einem Jahrhundert: Mehr als 35.000 Menschen sind bei dem Erdbeben in der Türkei und Syrien ums Leben gekommen. Eine Region, die halb so groß ist wie Deutschland, ist verwüstet.
Aus der Türkei dringen schreckliche Bilder und Meldungen in die Welt. Aus Syrien dagegen erfährt man wenig. Dabei dürfte die Situation dort noch dramatischer sein: Das Land ist nach zwölf Jahren Bürgerkrieg ohnehin schon in großen Teilen zerstört, fragmentiert und in großer Armut.
In Schutt und Asche liegen nach dem Erdbeben vor rund einer Woche vor allem die Gebiete im Nordwesten Syriens, an der Grenze zur Türkei. Die Situation beschreiben die wenigen Helfer, die dort hingelangen, als furchtbar. „Es gibt Meldungen der UN, dass dort ganze Dörfer und Kleinstädte zu 100 Prozent zerstört sind“, sagt Till Küster von der Hilfsorganisation Medico International im Gespräch mit unserer Redaktion. Wie Sie den Erdbebenopfern in Syrien und der Türkei helfen können, lesen Sie auf merkur.de.

Erdbeben in Syrien: Hilfe kommt kaum an
Professor Dr. Bawarjan Schatlo, Vorsitzender des Verbands kurdischer Ärzte, steht mit Betroffenen in der Region in Kontakt und schildert gegenüber FR.de „apokalyptische Zustände“: Hunderttausende Obdachlose, kaum medizinische Versorgung für die Verletzten, Mangel an allem. Das Erdbeben habe eine Region getroffen, die schon vorher fast komplett von humanitärer Hilfe abgeschnitten war, so Schatlo: „Und auch jetzt kommt in den vom Erdbeben betroffenen Gebieten in Nordsyrien praktisch keine Hilfe an.“
Bisher ist nur ein Grenzübergang in der Türkei für Hilfskonvois in die nordsyrischen Gebiete geöffnet. Und dieser sei in den ersten Tagen nach dem Erdbeben nicht einmal passierbar gewesen, schildert Medico-Experte Küster: „Die ersten Hilfstransporte sind erst vier Tage nach dem Erdbeben angekommen.“ Solange waren die Opfer sich selbst überlassen.

Erdbeben in Syrien: Politische Lage erschwert Hilfe für Opfer
Es liegt an der politisch äußerst komplexen Gemengelage, dass Hilfe für die Erdbebenopfer in Syrien so schwierig ist. Die unterschiedlichen Regionen werden von verschiedenen, verfeindeten Gruppen kontrolliert. Helfen ist nicht nur logistisch schwierig, sondern wegen der politischen Lage auch gefährlich.
Immens zerstört ist laut Küster die Provinz Idlib, eine Rebellenhochburg, die ohnehin seit Jahren ein Flüchtlings- und Katastrophengebiet ist. Assad blockiert offenbar Hilfstransporte in die Provinz, heißt es in einem Bericht des Tagesspiegel. Seine Forderung lautet wohl: Erst sollen die internationalen Sanktionen gegen ihn fallen.
Auch in der Region Afin - von pro-türkischen Milizen kontrolliert - scheint die Lage nach dem Erdbeben dramatisch zu sein und Hilfe kaum anzukommen. Betroffen sind außerdem Kurdengebiete, wo Luftangriffe aus der Türkei die Not noch vergrößern. In Aleppo, das in der Hand Machthabers Baschar al-Assad ist, sind ebenfalls tausende Gebäude wie Kartenhäuser in sich zusammengefallen. Allein dort soll es 200.000 Obdachlose geben.
Dramatische Zustände in Syrien: Eisige Nächte, hunderttausende Obdachlose
Laut Till Küster fehlte es anfangs sogar an Baggern und Maschinen, um unter den eingestürzten Häusern nach Verschütteten zu suchen. „Die Menschen haben mit den bloßen Händen in den Trümmern gegraben.“ In Syrien ist es derzeit ungewöhnlich kalt, mit Temperaturen von bis zu minus drei Grad in der Nacht. Ein Bruchteil der Obdachlosen kam in Moscheen oder Schulen unter, andere harren in Autos aus. Verzweifelt warten sie auf die Ankunft von Zelten und Decken, um die eisigen Nächte zu überleben.
Auch Nahrung könnten laut Küster bald knapp werden: Auf den lokalen Märkten der Region gebe es wohl derzeit noch Lebensmittel, so der Medico-Mitarbeiter, aber die Menschen würden bereits händeringend auf Nachschub warten.

Assad will Erdbeben-Katastrophe in Syrien offenbar für sich nutzen
Und der syrische Präsident Baschar al-Assad? Der setzt inmitten der Katastrophe offenbar darauf, wieder stärker international akzeptiert zu werden. Der Diktator ist wegen seines brutalen Vorgehens gegen sein eigenes Volk im Syrien-Krieg international weitgehend isoliert. Ihm werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit angelastet, darunter der Einsatz von Chemiewaffen. Laut einem Bericht der Deutschen Welle hofft er jetzt durch das Erdbeben auf eine Normalisierung der internationalen Beziehungen und die Rehabilitation seines Regimes.
„Es ist ein politisches Desaster, dass ein Diktator sich nun wieder so inszenieren darf“, sagt dazu Medico-Experte Küster. Assad habe sich nach dem Erdbeben erstmals seit Jahren wieder nach Aleppo gewagt - eine Stadt, die er einst brutal zerbombte. „Assad benutzt diese Katastrophe, um sich als Retter zu inszenieren“, warnt Küster.

Assad kündigt Öffnung weiterer Grenzübergänge an - Experte beklagt doppeltes Spiel
Am Dienstag (14. Februar) wurde bekannt, dass Assad zwei weitere Grenzübergänge in die Türkei öffnen lassen will. Das sei erst einmal eine gute Nachricht, so der Medico-Experte, weil so hoffentlich mehr Hilfe ankomme. Allerdings ist es seiner Meinung nach Augenwischerei, dass Assad dies als gute Tat seines Regimes verkaufe: Schließlich lasse er über das von ihm selbst kontrollierte Gebiet derzeit keinen einzigen Hilfstransport in die Gebiete seiner Gegner zu.
Khaled Davrisch, Vertreter der kurdischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien in Deutschland, fordert gegenüber FR.de, ebenfalls, dass die Notlage nicht politisch ausgenutzt werden darf. Er wirft der Türkei vor, teils Hilfslieferungen in kurdische Gebiete zu blockieren. „Seit fünf Tagen stehen Hilfskonvois der Selbstverwaltung an den Checkpoints und warten auf die Erlaubnis der pro-türkischen Söldner, die Hilfe in das von der Türkei besetzte Afrin zu bringen“, kritisiert er. Davrisch beschreibt zudem, dass die Erdbebenhelfer in Nord- und Ostsyrien täglich Angriffe aus der Türkei fürchten müssten.
Erdbeben in Syrien: Verbündete Russland und China senden Flugzeuge mit Hilfsgütern
In die von Assad kontrollierten Gebiete, die vom Erdbeben betroffen sind, kommt Hilfe derzeit offenbar leichter an: Verbündete Staaten wie Russland, China und der Iran sowie mehrere andere arabische Länder schickten am Dienstag (14. Februar) Flugzeuge mit medizinischen und weiteren Hilfsgütern, genauso wie die auch die Weltgesundheitsorganisation und Unicef. (smu)