Erdbeben trifft auch Syrien: „Lage in Aleppo besonders schlimm“
Mirna Abboud, Syrien-Koordinatorin von „Help – Hilfe zur Selbsthilfe“, schildert im Interview, wie das schwere Erdbeben Nordsyrien trifft und welche Unterstützung die Menschen vor Ort nun brauchen.
Frau Abboud, Sie koordinieren den Einsatz von „Help – Hilfe zur Selbsthilfe“ in Syrien – auch jetzt nach dem schweren Erdbeben. Wie ist die Lage in Nordsyrien?
Ich selbst bin in Erbil, im Norden Iraks, und werde in den kommenden Tagen nach Syrien reisen. Unsere Mitarbeiter versorgen uns jedoch bereits mit Nachrichten aus Syrien, aus der Stadt Hasaka und den Provinzen Aleppo, Latakia und Hama.
Was meldet Ihr Team?
Als ich am Morgen aufwachte, erhielt ich Dutzende von SMS von Bekannten, die sich nach uns erkundigten. Das Erdbeben war sogar in Erbil spürbar. In Nordsyrien gingen die Menschen auf die Straße und blieben dort für ein paar Stunden, bis sie in ihre Häuser zurückkehrten. In Aleppo hatten leider viele Menschen nicht das Glück, zu entkommen. Viele von ihnen sind unter ihren Häusern gestorben. In Hama und Latakia ist es dasselbe, aber in Aleppo scheint es am schlimmsten zu sein. Viele Gebäude sind eingestürzt, Hunderte von Menschen liegen jetzt in Krankenhäusern. Viele Menschen suchen Schutz in Schulbussen, weil sie weitere Erdbeben befürchten. Die Angst ist berechtigt, denn am Montagmittag gab es ein weiteres Erdbeben, das wir auch in Erbil gespürt haben.

Erdbeben in Syrien: Lage in Aleppo besonders schlimm
Warum ist die Lage in Aleppo so schlimm?
Die meisten Gebäude sind sehr alt und viele von ihnen bereits während des Krieges beschädigt worden. Aus diesem Grund stürzen dort viele Gebäude ein, mehr als bei einem Erdbeben dieses Ausmaßes zu erwarten wäre. Die alten und beschädigten Gebäude haben auch zum Ausmaß des humanitären Leids beigetragen und die Zahl der Toten in Aleppo in die Höhe getrieben.
Hilfsorganisation über Situation in Nordsyrien – „Die gesundheitliche Versorgung muss unterstützt werden“
Wie startet „Help“ nun seine Unterstützung vor Ort?
Unsere lokalen Partnerorganisationen führen in den betroffenen Gebieten „rapid assessments“ durch.
Was bedeutet das?
Wir versuchen herauszufinden, welche Prioritäten bei den Hilfsmaßnahmen gesetzt werden müssen. Die gesundheitliche Versorgung muss unterstützt werden – viele Krankenhäuser sind überfüllt – die Menschen brauchen Operationen, Medikamente, und es braucht Treibstoff für die Generatoren der Krankenhäuser, die jetzt auf voller Leistung laufen müssen. Außerdem werden die Menschen in Gemeinschaftsunterkünfte gebracht, die sich oft in Schulen befinden. In den Notunterkünften benötigen die Menschen neben Lebensmitteln und Hygieneartikeln auch Matratzen, Decken und Kleidung – also humanitäre Grundbedürfnisse.
Hilfsorganisation über Situation in Nordsyrien – „müssen dafür sorgen, dass man sich wieder an Syrien erinnert“
Die Region leidet seit Jahren unter dem Krieg. Wie wirkt sich das auf die Situation aus?
Die Menschen leiden unter der schrecklichen Versorgungssituation. Wir sprechen von fehlendem Treibstoff, Strom, Transport. Alles ist dort schlechter als etwa in Nordostsyrien. Die Menschen, die ohnehin schon in prekärer Situation leben und unter dem Krieg leiden, sind nun auch noch obdachlos. Es ist, als würde man einen sterbenden Patienten vom Beatmungsgerät nehmen. Diese Menschen sind obdachlos, sie haben einmal mehr ihre Heimat verloren.

Wie können andere Länder jetzt am besten helfen?
Wir müssen uns auf die Partner vor Ort verlassen. Sie kennen die Schwere und das Ausmaß der Not. Ich hoffe, wir können die Welt auf die Menschen in Not aufmerksam machen, denen seit Jahren aus politischen Gründen humanitäre Hilfe vorenthalten wird. Fast niemand spricht über Syrien, wir müssen dafür sorgen, dass man sich wieder an Syrien erinnert. Auch jede Spende ist natürlich sehr hilfreich.
Zu Person und Organisation
Mirna Abboud (32) ist Landesdirektorin für Syrien bei der Bonner Hilfsorganisation „Help – Hilfe zur Selbsthilfe“. Mehr Informationen im im Internet unter www.help-ev.de/laender/syrien FR
Haben Sie zuvor eine Katastrophe dieses Ausmaßes erlebt?
Ganz klar, nein. Ich habe mit einem 60-jährigen Helfer vor Ort gesprochen, und er sagte, was in der Nacht auf den Montag passiert ist, sei schlimmer als die vielen Jahre Krieg zusammen. Während des Krieges kann man Vorkehrungen treffen, aber das kam aus dem Nichts. Die Dächer der Häuser sind auf die Menschen gestürzt.
Interview: Jakob Maurer