Erbsengericht nach Magen-OP: Bündnis beklagt Mangelernährung in Kliniken

Ein Bündnis aus 24 medizinischen Fachgesellschaften fordert von Gesundheitsminister Lauterbach, für besseres Essen in Krankenhäusern zu sorgen.
Seine Mangelernährung war bereits fortgeschritten. 30 Kilogramm hatte Thorsten Bachmann innerhalb kürzester Zeit verloren, als er zur Operation ins Krankenhaus ging. Mehrere Monate litt der Kunsttherapeut aus Berlin unter massiven Schluckbeschwerden. Bei ihm wurde eine Magenspiegelung gemacht, er erhielt schließlich die Diagnose Magenkrebs und bereitete seinen Körper mit einer zehrenden Chemotherapie auf den Eingriff vor. Im vergangenen Oktober entfernten Chirurgen seinen Magen.
Gut erinnert sich der 65-Jährige an die Zeit nach dem Aufwachen. „Als ich frisch operiert auf dem Bett lag, kam ein Mann mit Laptop ins Zimmer und fragte mich: ‚Was wollen Sie denn essen?‘ – dabei hätte eigentlich ich Beratung gebraucht, was ich jetzt beachten muss.“ Einige Tage nach dem Eingriff servierte ihm die Klinik bereits Leberkäse mit Erbsen, so ziemlich das Gegenteil von Schonkost. Die Mahlzeiten bekam der Patient weiterhin dreimal am Tag, anstelle von vielen kleinen Portionen, wie sie für Menschen geeignet wären, bei denen alle Nahrung ohne Zwischenschritte direkt im Darm landet. „Die haben da ihr Schema, von dem sie nicht abweichen“, sagt Bachmann.
Der Onkologe Markus Schuler, der Bachmann ambulant betreut, kennt solche Erfahrungen. Er spricht von der „klassischen Odyssee“ vieler Patient:innen: „Wir hätten viel weniger Komplikationen, Nebenwirkungen und auch psychologische Probleme, wenn die Kliniken sich um den Ernährungszustand ihrer Patienten kümmern würden. In vielen Fällen wird eine Mangelernährung gar nicht erkannt und behandelt.“
Mangelernährung im Krankenhaus: 20 bis 30 Prozent der Patient:innen mangelernährt
Geht es nach medizinischen Fachgesellschaften, soll sich das ändern. Auf Initiative der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) haben sie Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) aufgefordert, im Zuge seiner Krankenhausreform die Ernährungstherapie fest in den Kliniken zu verankern. 24 Gesellschaften unterstützen den Appell, darunter die Fachorganisationen für Innere Medizin und Geriatrie (Altersmedizin), die Krebs- und die Diabetesgesellschaft – ein ungewöhnlich breites Bündnis.
Studien zufolge gelten 20 bis 30 Prozent der Klinikpatient:innen als mangelernährt, also mit wichtigen Nährstoffen kritisch unterversorgt, argumentieren sie. In der Krebsmedizin oder bei älteren Menschen sind es sogar noch mehr. Betroffen seien bereits Säuglinge und Kinder, und auch vor stark übergewichtigen Patient:innen macht das Problem nicht Halt. Hier zeige sich der Mangel häufig durch den Verlust an Muskelmasse.
Das Problem: Von Mangelernährung Betroffene haben geringere Heilungschancen. Sie verkraften Operationen schlechter, bei ihrer Behandlung kommt es häufiger zu Komplikationen, ihr Risiko zu sterben ist größer als bei normal Ernährten. Immer wieder belegen Untersuchungen, dass bis zu 20 Prozent der Todesfälle von Krebspatient:innen gar nicht auf ihre Erkrankung, sondern auf die Folgen einer Mangelernährung zurückgehen.
Dennoch verzichten viele Kliniken darauf, den Ernährungszustand der Patient:innen zu screenen. Das Essen gilt in vielen Einrichtungen als mangelhaft, zudem ist das Verpflegungsmanagement unzureichend mit den medizinischen Abteilungen verknüpft, wie DGEM-Präsident Matthias Pirlich im Gespräch mit der FR beklagt: „30 Prozent des Essens wird nicht gegessen. In manchen deutschen Krankenhäusern können Patienten wochenlang liegen, nichts essen – und keiner merkt es.“
Reform: Karl Lauterbach will auch die Qualität der Krankenhäuser verbessern
Mit seiner Krankenhausreform will Minister Lauterbach nicht nur die prekäre Finanzlage der Krankenhäuser verbessern, sondern auch die Qualität: Man habe es mit der „Ökonomisierung übertrieben“, künftig müssten die kranken Menschen „wieder im Mittelpunkt stehen“, so der SPD-Politiker bei einer Pressekonferenz. Bis zum Sommer will er die Eckpunkte seiner Reform in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe abgestimmt haben. Die Vorarbeit lagerte er an Expert:innen seiner eigens gegründeten „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ aus.
Den Titel des Gremiums greifen nun die Fachgesellschaften auf: Eine „moderne“ und „bedarfsgerechte“ Versorgung – da darf aus ihrer Sicht die Ernährungstherapie nicht fehlen. Tatsächlich haben Wissenschaftler:innen in den vergangenen Jahren eine erdrückende Evidenz zu Tage gefördert, dass sich damit Patient:innen helfen lässt. Allen voran mit der groß angelegten und 2018 im Fachjournal „The Lancet“ veröffentlichten „EFFORT“-Studie (siehe auch Interview gegenüber).
Für den Versuch ließ ein Schweizer Forschungsteam mehr als 1000 Klinikpatient:innen mit Mangelernährung und unterschiedlichen Diagnosen – Infektionen, Krebs, Herz-Kreislauf-, Magen-Darm-, Lungen-, Nieren- oder Stoffwechselerkrankungen – zehn Tage lang ernährungstherapeutisch versorgen. Sie erhielten eine individuell abgestimmte Kost und kompetente Ernährungsberatung. Nach einem Monat stellten die Forscher:innen fest: Das Risiko der Patient:innen, in diesem Zeitraum zu sterben, war mithilfe dieser kurzen Intervention um 35 Prozent gesunken. Als Vergleich diente eine Kontrollgruppe, in der ebenfalls gut 1000 mangelernährte Patient:innen mit vergleichbaren Diagnosen die normale Krankenhauskost erhalten hatten. Durch die Ernährungstherapie verringerten sich auch Zahl und Schwere von Komplikationen.
Lauterbachs Ministerium verweist auf vorhandene Standards
Auf Anfrage verweist das Bundesgesundheitsministerium auf die Qualitätsstandards für die Klinikverpflegung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), auf Standards für den Umgang mit Mangelernährung und auf ärztliche Leitlinien, die bei vielen Erkrankungen eine Ernährungstherapie vorsehen. Doch die Standards sind unverbindliche Ratschläge, und gegen ärztliche Leitlinien werde regelmäßig verstoßen, wie der Berliner Onkologe Schuler weiß.
Ein Beispiel: Nach Möglichkeit sollen Operationen bei Krebserkrankten mit schlechtem Ernährungszustand erst dann erfolgen, wenn diese über einige Tage hinweg mit hochkalorischer Nahrung gestärkt wurden – viele Kliniken verzichten aber darauf, so Schuler: „Die Strukturen der Krankenhäuser geben das gar nicht her.“
Für einige Kliniken mag ein gutes Ernährungsmanagement ein Unterscheidungsmerkmal im Wettbewerb um Patient:innen sein, für andere ist es vor allem ein Kostenfaktor. 2018 ergab eine Befragung des Deutschen Krankenhausinstituts, dass die Häuser im Schnitt rund fünf Euro pro Tag und Person für Lebensmittel ausgaben – inflationsbereinigt waren das 14 Prozent weniger als noch 2006. Auch die Stellen für Diätassistent:innen sind rückläufig, und trotz ihrer Bedeutung ist die Ernährungsmedizin bislang nur eine freiwillige Zusatzqualifikation für Ärzt:innen, aber kein fester Bestandteil des Medizinstudiums. In ihrer Stellungnahme bemängeln die 24 Fachgesellschaften eine insgesamt ungenügende „Ernährungskompetenz“ in den Kliniken.
Forderung an Karl Lauterbach: „Wir brauchen politische Regulierung“
„Wir brauchen politische Regulierung“, fordert DGEM-Präsident Pirlich. Die Forderungen der Fachgesellschaften: Patient:innen sollten bei der Aufnahme in ein Krankenhaus „routinemäßig“ auf Mangelernährung untersucht und bei Bedarf eine individuelle Ernährungstherapie samt bedarfsgerechter Verpflegung erhalten. Zudem müssten die Kliniken „interprofessionelle Ernährungsteams“ einrichten. In solchen Teams arbeiten beispielsweise Ernährungsmediziner:innen, Diätassistent:innen, Ökotropholog:innen und geschulte Pflegekräfte eng abgestimmt mit den Kranken, die ein Risiko für Mangelernährung tragen. Expert:innen schätzen, dass bisher jedoch weniger als jede zehnte Klinik in Deutschland ein Ernährungsteam hat. Für Pirlich eine unverständliche Lücke: „Das ist so, als würden wir auf Hygienemaßnahmen verzichten“, so der Internist.
Im Gesundheitsministerium stoßen die Forderungen bislang nicht gerade auf offene Ohren. „Die Bundesregierung plant nicht, verpflichtende Ernährungsteams in Kliniken vorzuschreiben“, erklärt eine Sprecherin Lauterbachs auf Anfrage. Auch bei der Verpflegung sieht der Minister offenbar keinen politischen Handlungsbedarf: „Die Kliniken sind im Rahmen ihrer Organisationshoheit selbst für die Verpflegung im Krankenhaus verantwortlich“, so die Sprecherin.
Was das bedeuten kann, hat Thorsten Bachmann nach seiner Magen-OP erfahren. Dabei hatte er noch Glück: Die ambulante Praxis von Markus Schuler konnte ihn in ein Studienprojekt aufnehmen. Das ermöglichte engmaschigere Untersuchungen, zudem vermittelte der Onkologe ihm eine Ernährungsberatung. Bachmann holte sich auf diesem Wege selbst jene Ernährungskompetenz, die er im Krankenhaus vermisste. Die meisten anderen Patienten können nach dem Stand der Dinge nicht auf eine ähnliche Begleitung hoffen.