Entsetzen über Anschlag in Halle

Ein Bewaffneter greift eine vollbesetzte Synagoge an, zwei Menschen sterben. Der Generalbundesanwalt hat Hinweise auf einen rechtsextremistischen Täter.
Ein grauer VW Golf mit Euskirchener Kennzeichen hält vor der jüdischen Synagoge im Paulusviertel an der Humboldtstraße. Ein Mann – olivgrüne Jacke, Helm mit aufmontierter Kamera, Kampfstiefel und schwarze Handschuhen – steigt aus Auto. Auf dem Rücken trägt er einen Rucksack. Mehrere Patronenmagazine sind um seinen Bauch gegürtet. An einer Mauer in der Nähe der Synagoge stellt er eine Schrotflinte ab. Mit einem anderen Gewehr geht er hinter dem Fahrzeug in Deckung, eröffnet das Feuer.
Und im beschaulichen Paulusviertel im Norden des sachsen-anhaltinischen Halle, direkt vor der Synagoge, am höchsten Feiertag für Menschen jüdischen Glaubens beginnt das Grauen.
Eine junge Frau, die nach Aussage eines Augenzeugen zufällig aus der Straßenbahn steigt, soll sein erstes Opfer sein. Offiziell bestätigt wird die Nachricht bis zum frühen Abend nicht.
Rund 80 Menschen sind zu diesem Zeitpunkt in der Synagoge. Sie haben sich anlässlich des Versöhnungsfestes Jom Kippur zum Beten und Feiern versammelt. Als die ersten Schüsse fallen, verbarrikadieren sie sich in der Synagoge. Der Täter versucht wohl auch, in das Gotteshaus einzudringen, schießt auf die Tür.
Deutschland im Jahr 2019. Jüdische Gemeinden wissen, dass ihre Gotteshäuser zu Angriffszielen werden können. Sie versuchen, sich zu schützen. „Die Sicherungsvorkehrungen am Eingang haben dem Angriff standgehalten“, sagt Max Privorotzki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Halle.
Über Stunden bleibt die Lage unklar. Augenzeugen berichten, der Mann habe Sprengsätze an der Synagoge detonieren lassen. Die Polizei warnt öffentlich vor mehreren Verdächtigen, die per Auto flüchteten, später geht sie aber von einem Einzeltäter aus. An einem Dönerladen im Paulusviertel fallen ebenfalls Schüsse. Ein Mann stirbt.

Zivile Verfolgungsfahrzeuge der Sicherheitsbehörden jagen mit Sirenengeheul durch die Straßen. Gegen 15 Uhr teilt die Polizei mit, einen Tatverdächtigen verhaftet zu haben. Wo genau, sagt sie nicht. Fast zeitgleich fallen auch im etwa 15 Kilometer entfernten Landsberg Schüsse.
Die Behörden sprechen von zwei Toten, das bestätigt später Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). Die Deutsche Presseagentur meldet, dass der mutmaßliche Täter nach Informationen aus Sicherheitskreisen ein 27-Jähriger aus Sachsen-Anhalt sei. Es sei davon auszugehen, dass Stephan B. deutscher Staatsangehöriger sei und die Tat einen rechtsextremistischen Hintergrund habe. Er soll seine Tat gefilmt und ins Internet gestellt haben.
Das Land Sachsen-Anhalt ruft eine „Amoklage“ aus. Und fordert die Menschen auf, „Deckung zu suchen“, die Nachrichten zu verfolgen – und größere Glasflächen zu meiden. Polizisten und Anti-Terrorkräfte aus dem gesamten Bundesgebiet, seit dem frühen Nachmittag im Einsatz, riegeln den Großraum Halle ab und kontrollieren Zufahrtsstraßen. Der Bahnhof Halle wird zeitweise geschlossen. Überall in der Bundesrepublik wird die Bewachung der Synagogen verschärft.
Durch die Medien geht ein verstörendes Bild vom Tatort: Auf der Straße vor der Synagoge liegt, abgedeckt mit einem blauen Tuch, ein Leichnam. Daneben ein Rucksack, eine Wasserflasche in der Außentasche, eine gelbe Stoffente als Anhänger am Reißverschluss.
Nach den tödlichen Schüssen nimmt die Bundesanwaltschaft wegen „Mordes von besonderer Bedeutung“ die Ermittlungen auf. „Nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnisse müssen wir davon ausgehen, dass es sich zumindest um einen antisemitischen Angriff handelt“, teilt Seehofer in Berlin mit. Nach Einschätzung des Generalbundesanwalts gebe es zudem „ausreichend Anhaltspunkte“ für einen möglichen rechtsextremistischen Hintergrund, ergänzt er.
Der rechtsextremistische Hintergrund liegt nahe: Wegen des Anschlagsortes an der Synagoge – und wegen der Besonderheiten in Halle. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, zeigt sich entsetzt. „Ich bin erschüttert über diese Vorkommnisse“, sagte er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Meine Gedanken sind bei den Familien der Opfer und den jüdischen Gemeinden überall in Deutschland, die ihren höchsten Feiertag nun in Angst erleben müssen. Der Vorfall vor der Synagoge in Halle zeigt auch, wie wichtig die Sicherheitsmaßnahmen für jüdische Einrichtungen in Deutschland sind.“

Klein betonte, Staat und Gesellschaft müssten „den jüdischen Gemeinden jetzt durch entschlossenes Handeln Solidarität demonstrieren. Es muss klar sein: Das ist ein Anschlag auf uns alle. Und das jüdische Leben gehört zu Deutschland.“
Außenminister Heiko Maas (SPD) schreibt auf Twitter: „Dass am Versöhnungsfest #YomKippur auf eine Synagoge geschossen wird, trifft uns ins Herz.“ Auch UN-Generalsekretär António Guterres spricht in New York von einer „weiteren tragischen Demonstration von Antisemitismus.“
Lesen Sie auch: Frankfurter Jüdinnen und Juden sind ins Mark getroffen
Die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli ruft dazu auf, ein Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen. „Ich möchte nicht, dass Juden in unserem Land Angst haben müssen. Lasst uns gemeinsam einen Schutzschirm gegen #Antisemitismus bilden“, twittert die SPD-Politikerin am Nachmittag. „Ich stelle mich daher heute ab 20 Uhr vor die Synagoge in der Oranienburger Straße. Kommt vorbei und zeigt Haltung!“
Der Verdacht auf eine antisemitische Gewalttat kommt auch schnell auf, weil die 240 000-Einwohner-Stadt Halle im Süden Sachsen-Anhalts schon lange als Dreh- und Angelpunkt des Rechtsextremismus gilt. Da ist zum einen die starke Hooliganszene rund um den Halleschen FC, die als gewaltbereit gilt und durch entsprechende Vorfälle immer wieder auffällt. Unter anderem auch im Zusammenhang mit dem Tod eines Fußballfans aus Magdeburg.
Für ein weiteres Netzwerk ist Halle auch bekannt: Die Identitäre Bewegung (IB), vom Verfassungsschutz seit 2016 beobachtet und inzwischen als rechtsextrem eingestuft, hat in Sachsen-Anhalt sozusagen ihr Hauptquartier: ein Wohnprojekt. Nur Minuten entfernt vom Tatort, in der Adam-Kuckhoff-Straße im Steintorviertel, dient das rund 400 Quadratmeter große Haus vor allem für Treffen, Veranstaltungen und Vernetzung. „Die Identitären haben Halle zur Frontstadt erklärt“, sagt Matthias Quent, Direktor vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena. „In der Universitätsstadt wollen sie den Kulturkampf beginnen, junge intellektuelle Köpfe für sich gewinnen.“
Das Hausprojekt habe zwar zunächst für große Gegenwehr aus der linken Szene gesorgt, aber: „Wenn die IB in einer Stadt in Deutschland kampagnenfähig ist, dann in Halle“, sagt der Rechtsextremismusexperte. Nur wenige Mitglieder wohnen tatsächlich im Haus, viele aber in diesem Viertel.
Der Leitartikel: Rechter Terror: Die deutsche Blindheit
Auch der AfD-Landtagsabgeordnete Hans-Thomas Tillschneider unterhält in dem Haus ein Abgeordnetenbüro. Die übrigen Räume werden für Stammtische genutzt und Vortragsabende, an denen sie ihre rechtsextreme Ideologie verbreiten und immer wieder auch Gäste aus dem Ausland empfangen, etwa Funktionsträger des Regiment Asow, einer paramilitärischen Gruppe aus der Ukraine.
Einer Expertin der Amadeo Antonio Stiftung zufolge gibt es einen regen Austausch. So lasse das „Regiment Asow“ immer wieder auch junge Leute aus Deutschland rekrutieren und in der Ukraine an Bürgerkriegsübungen teilnehmen, um Erfahrungen im Umgang mit Waffen zu sammeln.
„Die rechte Szene in Halle hat eine zutiefst antisemitische Einfärbung“, sagt Grünen-Innenexperte Konstantin von Notz. Für eine seriöse Einschätzung der Geschehnisse sei es aber noch viel zu früh. Man müsse die Ermittlungsergebnisse abwarten.
Vorsichtig will auch Valentin Hacken von „Halle gegen Rechts“ sein. Er sagt: „Es gibt in Halle keine gefestigte Neonazi-Szene mehr wie noch zu Zeiten des NSU. Einzelne Akteure sind allerdings immer noch aktiv. Aber: Es gibt zurzeit keine Hinweise, dass die Täter aus Halle kommen.“
Über dem Zentrum von Halle liegt am Abend eine gespenstische Stimmung. Kein Auto fährt auf den breiten Straßen, an jeder Ecke stehen Polizisten mit Sturmhauben und Maschinenpistolen. Die Menschen bleiben in den Häusern.