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Eine Situation gerät außer Kontrolle

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Von: Kordula Doerfler

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Seawatch-Helfer versuchen, Bootsflüchtlinge zu retten.
Seawatch-Helfer versuchen, Bootsflüchtlinge zu retten. © dpa/Sea-Watch

Flüchtlinge sterben bei einer Rettungsaktion im Mittelmeer. Libyen gibt den deutschen Helfern die Schuld, hat den Einsatz aber massiv behindert.

Ihren ersten Einsatz auf der „Sea Watch 3“ hat sich Pia Klemp anders vorgestellt. Das neue Schiff der in Berlin ansässigen Nichtregierungsorganisation ist erst seit dem 2. November im Mittelmeer unterwegs, es ist größer als die bisherigen und kann auch Menschen in Seenot an Bord nehmen. In den ersten Tagen ist alles ruhig. Dann aber kommt es zu einem dramatischen Zwischenfall, der die Mission erst einmal beendet. Pia Klemp, die Kapitänin, und ihre Crew sitzen jetzt im Hafen von Pozzallo fest, im äußersten Südosten Siziliens. 

Vorerst darf das Schiff nicht auslaufen, die italienischen Behörden ermitteln gegen Unbekannt, weil es bei dem Rettungseinsatz zu Toten kam. Am Mittwochabend wurde Klemp von der örtlichen Polizei befragt, am Donnerstag zwei weitere Besatzungsmitglieder. 59 Menschen brachte die „Sea-Watch 3“ nach Sizilien, sie hatte auch ein totes Kind an Bord.

Im Telefongespräch mit der Frankfurter Rundschau zittert der 34-jährigen Klemp noch immer die Stimme, als sie erzählt, wie sie versucht haben, den zwei Jahre alten Jungen aus Nigeria wiederzubeleben. Doch auch das erfahrene Ärzteteam an Bord konnte den Jungen nicht retten. „Das hätte nicht passieren dürfen“, sagt Klemp, die seit Jahren zur See fährt. „Und vor allem hätte es nicht passieren müssen.“

Der Notruf kam aus internationalen Gewässern

In den frühen Morgenstunden des 6. November setzt ein mit Menschen vollkommen überladenes Schlauchboot einen Notruf ab, es treibt in internationalen Gewässern etwa 30 Seemeilen nördlich von Tripolis. Ein französisches Kriegsschiff ist in der Nähe, dazu auch ein italienischer Militärhubschrauber, auch die Sea-Watch 3 ist nicht weit weg. Sie bekommt von der zentralen Leitstelle zur Seenotrettung (MRCC) in Rom, die solche Einsätze dort koordiniert, den Auftrag, die Schiffbrüchigen zu retten. Es muss schnell gehen, meistens können die Flüchtlinge nicht schwimmen.

Von Süden her nähert sich ein Schiff der libyschen Küstenwache. Nach Darstellung von Klemp behindern die Libyer die Rettungsaktion massiv. Viele Menschen springen aus Panik ins Wasser. Alle Versuche, einen Funkkontakt zu dem libyschen Schiff herzustellen, scheiterten, sagt Pia Klemp. Die Situation gerät außer Kontrolle, das belegen auch Video-Aufnahmen und Fotos, die Sea-Watch öffentlich gemacht hat.

Man sieht dort, wie das libysche Schiff das Schlauchboot fast überfährt, wie es später abdreht, während sich ein Schiffbrüchiger noch an der Außenwand an einer Strickleiter festklammert. An Bord sind 45 Menschen, ihnen droht ein ungewisses Schicksal. Zehntausende werden in Libyen unter unmenschlichen Bedingungen in Lagern festgehalten, gefoltert und wie Sklaven behandelt, das zeigen auch UN-Berichte. 

Sea-Watch erhebt schwere Vorwürfe gegen die libysche Seite. „Ihr ganzes Verhalten war ganz klar nicht darauf ausgerichtet, Menschen zu retten“, sagt Pia Klemp. „Sie haben damit gegen alle Regeln, die in Notsituationen gelten, verstoßen.“ Insgesamt sterben fünf Menschen, vier weitere Tote wird später die „Aquarius“, ein Schiff der Organisation SOS Méditerranée, nach Italien bringen. Die libyschen Behörden machen nun die deutsche NGO für die Geschehnisse verantwortlich, es steht Aussage gegen Aussage, das Bildmaterial spricht aber für die Sicht von Sea-Watch. 

Es ist nicht der erste Vorfall dieser Art. Immer wieder kam es in den vergangenen Monaten zu Zusammenstößen mit der Küstenwache, seitdem diese versucht, die NGO davon abzuhalten, Schiffbrüchige zu retten.

Sie bringt nun auch viel häufiger Flüchtlinge direkt zurück. Nachdem in der ersten Jahreshälfte so viele Menschen wie nie zuvor über das Mittelmeer nach Italien kamen, handelte die Regierung in Rom. Sie beschloss einen gemeinsamen Militäreinsatz mit Libyen und verlangte den NGO ab, einen Verhaltenskodex zu unterschreiben. Auch Sea-Watch hat ihn unterzeichnet, aber erst, nachdem in einigen Punkten nachgebessert wurde. „Wir wollten ein Zeichen setzen, dass wir kooperationsbereit sind“, sagt Axel Grafmanns, der Geschäftsführer von Sea-Watch.

Die lybische Küstenwache schreitet öfter ein

Im Sommer unterbrachen fast alle Organisationen ihre Einsätze für einige Zeit, weil sie sich bedroht fühlten. In vielen Ländern Europas wird ihnen vorgeworfen, einen „Shuttle-Service“ über das Meer zu betreiben und den Schleusern in die Hände zu spielen. Die libysche Regierung erklärte zudem ein Gebiet von mehr als 70 Seemeilen außerhalb der eigenen Hoheitsgewässer zur sogenannten Save-and-Rescue-Zone (SAR-Zone) und drohte allen mit Waffengewalt, die dort eindringen.

Die Zahl der Bootsflüchtlinge ist in den letzten Monaten zurückgegangen. Knapp 112 000 Menschen kamen 2017 bis Anfang November über das Meer, ein Jahr zuvor waren es im gleichen Zeitraum fast 160 000. Es gibt hartnäckige Gerüchte, dass Milizen im Westen Libyens, die ihre Waffen auch mit Menschenschmuggel finanzieren, von der EU bezahlt werden, damit sie ihr schmutziges Geschäft ruhen lassen. 

Zuletzt allerdings wagten wieder mehr Menschen die gefährliche Überfahrt. Derzeit sind wieder sechs Organisationen im Einsatz, auch die beiden Schiffe der in Regensburg ansässigen Sea Eye sind unterwegs. Sie fahren allerdings nicht in die SAR-Zone hinein. „Wir glauben, dass wir dort zu stark gefährdet sind“, sagt ihr Sprecher Hans-Peter Buschheuer.

Sea-Watch dagegen hält die einseitige Deklaration der Libyer für nicht bindend und fährt in die Gewässer hinein. „Die einseitige Erklärung verstößt gegen internationales Recht“, sagt Grafmanns. Auch der Zusammenstoß in dieser Woche trug sich dort zu, weit außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer. „Das ist alles sehr bitter und traurig“, sagt Pia Klemp.

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