Ein Jahr Omid Nouripour und Ricarda Lang: Vom Handeln und Hadern

Ricarda Lang und Omid Nouripour müssen seit ihrer Wahl an die Spitze der Grünen heikle Debatten moderieren – Bilanz einer Zerreißprobe.
Die Wörter Krieg und Waffen spielen Ende Januar 2022 noch keine Rolle – zumindest in den Reden, mit denen sich Ricarda Lang und Omid Nouripour für den Bundesvorsitz der Grünen bewerben. Als die Partei ihre Spitze neu aufstellt, rumort das Schreckensszenario der russischen Invasion noch im Hintergrund. Am 14. Februar, an diesem Dienstag vor einem Jahr, stehen Lang und Nouripour dann als Nachfolge von Annalena Baerbock und Robert Habeck fest. Die Schwäbin und der Frankfurter, heute 29 und 47, treten kein leichtes Erbe an: Habeck und Baerbock, eben ins Außen- und Wirtschaftsministerium gewechselt, haben die Partei zurück in die Regierung und in neue Sphären geführt: 14,8 Prozent bei der Bundestagswahl 2021, so viel wie nie. Doch es folgt ein Jahr, das die Partei und ihre neue Führung vor eine Zerreißprobe stellt.
Als das Schreckensszenario zehn Tage später Realität wird, sind der Krieg und die Waffen in aller Munde. Sie werden zur Zäsur – auch für die Friedenspartei. „In so einem historischen Moment“, sagt Lang am 27. Februar im ARD-Fernsehen, „geht es nicht darum, zu verteidigen, was wir schon immer gesagt haben. Jetzt geht es darum, wie wir Demokratie, Frieden und Freiheit in Europa schützen können.“ Keine Waffen in Kriegsgebiete – diese Parteilinie gilt im Angesicht von Putins Invasion nicht mehr.
Grüne: „Wir werden immer Friedenspartei bleiben.“
Sprung in den April. Beim kleinen Parteitag in Düsseldorf bleiben Streitereien aus: Die Delegierten segnen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine und das Sondervermögen für die Bundeswehr ab. Dass sich Dilemmata verschieben können, bringt Baerbock auf den Punkt: „Dabei handeln wir und hadern zugleich, und wir hadern, ob wir ausreichend handeln.“ Die Frage ist nicht mehr, ob man Waffen schickt, sondern wie viele. Nouripour versichert: „Wir werden immer Friedenspartei bleiben.“
Beim Bundesparteitag im Oktober kommt noch mal Unruhe auf. Mehrere Anträge, in denen die neue Waffenrealpolitik als Abkehr von der pazifistischen Tradition der Partei kritisiert werden, lehnen die Delegierten in Bonn ab. Der Europaabgeordnete Sergey Lagodinsky ruft den Pazifist:innen mit Hinweis auf das Parteilogo der Grünen zu, die Ukrainer könnten sich schließlich nicht mit Sonnenblumen verteidigen – Pragmatismus ersetzt Idealismus.
Grüne: Die Parteiführung ist Geschlossenheit bemüht
Putins Angriffskrieg trifft noch an vielen weiteren Punkten die Seele der Grünen. Dass die Debatte um verlängerte Laufzeiten der Atomkraftwerke noch einmal aufflammt, war nicht zu erwarten gewesen. Vor allem der Koalitionspartner FDP und Teile der Opposition forderten, die verbleibenden AKW über das Jahresende hinaus am Netz zu lassen.
Innerhalb der Grünen sorgt das Thema für Streit. Die Parteiführung ist bemüht, nach außen hin Geschlossenheit zu zeigen. Im Sommer gibt sie laut Berichten eine Sprachregelung aus, nach der Parteimitglieder möglichst knapp und sachlich argumentieren sollten. Im Interview mit der FR sagt die Vorsitzende Lang Ende August, es gehe nicht darum, als was die Grünen gegründet wurden, „sondern um die Versorgungslage und Sicherheit in diesem Land“.
Grüne: Der Atomstreit bestimmt Sommer und Herbst
Anfang September 2022 rettet Lang die Partei schließlich auf eine rote Linie – die eigentlich schon weiter vorne liegt, als es zur Anti-Atom-Partei passt: „Es wird keine Laufzeitverlängerung, keine neuen Brennstäbe geben“, sagt sie der „Süddeutschen Zeitung“. An der Haltung zum Atomausstieg halte man damit fest – dem Reservebetrieb kann man damit trotzdem zustimmen. Diese Haltung segnet schließlich auch der Bundesparteitag der Grünen ab – allerdings nicht ohne Kritik und einem Gegenantrag von der Basis.
Nur einen Tag später entscheidet Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), dass drei AKW bis April dieses Jahres am Netz bleiben, statt nur zwei in der Reserve. Dann gibt es doch noch mal Ärger: Vorsitzender Omid Nouripour kritisiert, dass das AKW Emsland weiter laufen darf. Dennoch sei die Entscheidung kein Grund, „eine große Diskussionskrise auszulösen“.
Grüne: In Lützerath spitzt sich der Konflikt zu
In der Diskussion um die Räumung des rheinländischen Dorfes Lützerath spitzt sich der Konflikt zwischen Parteiführung und Basis schließlich zu. Schon als Robert Habeck und Mona Neubaur, seine Parteikollegin und Wirtschaftsministerin von NRW, den Deal mit RWE verkünden, gibt es Widerworte: „Deals mit RWE im Hinterzimmer führen nicht dazu, dass wir unsere Klimaziele einhalten“, schrieb Kathrin Henneberger, Klima-Aktivistin und seit dieser Legislatur für die Grünen im Bundestag auf Twitter.
Die Räumung ist bereits im Gange, da richten Grünen-Mitglieder einen kritischen Brief an die Parteispitze, mehr als 2000 Grüne unterschreiben. Während einzelne Abgeordnete und die Grüne Jugend die Proteste auch vor Ort unterstützen, verteidigen die Vorsitzenden ihren Kurs: Wenn die Grünen nichts getan hätten, dann hätte dies bedeutet, dass „Lützerath und fünf weitere Dörfer, in denen 500 weitere Menschen noch leben, abgebaggert werden“, sagte Ricarda Lang im „ARD-Morgenmagazin“.
Grüne: Pragmatismus als Erfolgsrezept
Seit der Räumung wirkt es allerdings so, als hätten sich die Grünenspitze und die Minister:innen auf die aktivistischen Wurzeln der Partei besonnen: Bei den zahlreichen weiteren Streitthemen – vor allem mit der FDP – sind sie bisher zumindest öffentlich nicht eingeknickt: So bestehen die Grünen etwa beim Planungsbeschleunigungsgesetz darauf, dass Autobahn-Neubauten nicht schneller genehmigt werden sollen. Auch den Wünschen der FDP, das Klimaschutzgesetz zu verwässern, scheinen sie bisher nicht kleinbeizugeben.
Was die Gunst der Wählerinnen und Wähler angeht, haben die Konflikte sowieso kaum Spuren hinterlassen. Bei den Landtagswahlen 2022 schwimmt die Partei weiter auf der Erfolgswelle. In Berlin wurde das Ergebnis von 2021 soeben gehalten. Und in deutschlandweiten Umfragen schwanken die Grünen derzeit zwischen 18 und 19 Prozent – fünf Prozentpunkte mehr als bei der Bundestagswahl 2021. Trotz der harten Kompromisse, die den Kern des grünen Selbstverständnisses treffen, scheint die Strategie des Pragmatismus von Omid Nouripour und Ricarda Lang also aufzugehen.